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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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jenseits aller persönlichen Gefühle. Und natürlich muss man an die Kinder denken.
    Auch die Achmatowa hat das Radio eingeschaltet; da ist sie sich sicher. Die Achmatowa hat eine Schwäche für Mitja. Nun, welche Frau hätte das nicht? Und Nina hat ihn abbekommen, glückliche Nina! Er hält ihr Leben in einem feuchtkalten Klammergriff. Vielleicht haben auch seine Fußballspielerfreunde von Dynamo eingeschaltet, falls von denen noch einer lebt. Und natürlich – wer weiß, was der Genosse Stalin hört? Zwei Geiger, in Profilansicht, packen entschlossen die Bögen ihrer Instrumente, nach außen gerichtet wie Bajonette. Ein grauer und trostloser Anblick.
    In Leningrad tat die Dichterin Olga Bergholz, die später einmal ihren Mithäftlingen Oden an Stalin vortragen sollte, über Schostakowitsch kund: Dieser Mann ist stärker als Hitler!
70  – Stalin persönlich soll gesagt haben, die Siebente sei von ebenso großer Schlagkraft wie eine Bomberschwadron. Die Prawda nannte sie die Schöpfung des Gewissens des russischen Volkes. Schostakowitschs Ruhm blendete wie der Harsch auf den Schneewehen an den Mauern Leningrads. (Es kommt mir vor, als sähe ich sein blässliches, halb jungenhaftes Gesicht gefährlich nah an dem der schönen B. Dulowa funkeln, wie sie da beide 1942 verzaubert
auf ihren Stühlen im Konzertsaal sitzen.) Toscanini dirigierte die Siebente im Radio City Studio, New York. Der Leiter des Boston Symphony Orchestras erklärte: Seit Beethoven hat es keinen Komponisten von so ungeheurer Breitenwirkung mehr gegeben. Der Emigrant Seroff, der Schostakowitsch offenbar nie begegnet ist, brachte im Eiltempo eine Biografie heraus, die mit der folgenden Rechtfertigung beginnt: Heute kann der »Durchschnitts«-Amerikaner seinen Namen nicht nur korrekt aussprechen, sondern sogar buchstabieren.
71 Bartók parodierte die Siebente angewidert und verbittert – auch ein Kompliment. Das britische Dictionary of Musical Themes führte nicht weniger als elf ihrer Motive auf.
72 Der bürgerliche Kritiker Layton verurteilte das Rattenthema und erklärte, dieser naive Anfall von Piktorialismus reduziere die Siebente auf die Ohnmacht von Aktualitätenkunst .
73 In der Nachkriegsära sollten andere Intellektuelle, die nie gezwungen gewesen waren, sich unter solchen Umständen zu behaupten, die 7. Sinfonie noch lauter abtun und in ihr ein musikalisches Schlachtfeld sehen, besetzt von zwei völlig unvereinbaren Gegenspielern: Schostakowitschs Wunsch, die Wirklichkeit zum Ausdruck zu bringen, und seinem Drang, seinen Herren zu gefallen.
74 Auf welchen Standpunkt, Leser, fällt deine Wahl?
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    D. D. Schostakowitsch war weder Jude noch Pole, aber der Genosse Stalin hatte persönlich erklärt, der Begriff der Nationalitätszugehörigkeit sei nichts als ein Mittel der Kapitalisten, unseren Blick auf die Klassenunterschiede zu vernebeln. Was das Diktum der Partei angeht, die Kunst müsse von der Form her national sein, vom Inhalt her sozialistisch, so beschreibt es eine reine Übergangslösung, um die Menschen sanft von ihren engstirnigen Kategorien abzunabeln. Ich werde mich also nicht dafür entschuldigen, dass ich diese Erzählung mit einem Auszug aus den Gedanken eines Warschauer Kabbalisten namens Moses Cordovero beschließe. In seinem Werk mit dem Titel Tomer Deborah, üblicherweise übersetzt als Der Palmbaum der Deborah , steht geschrieben: Der Heilige, gepriesen sei Er, verhält sich nicht wie der sterbliche Mensch: Wenn der von seinem Gefährten geärgert wurde und wenn er sich dann mit ihm versöhnt hat, so söhnt er sich ein wenig mit ihm aus, aber dies geschieht nicht mit der früheren Liebe. Wenn aber ein Mensch
sich versündigt hat und die Umkehr vollzogen hat, dann steht er für den Heiligen, gepriesen sei Er, auf höherer Stufe als zuvor. Und das ist der Sinn von ›Wo die Menschen der Umkehr stehen, können die vollkommen Gerechten nicht stehen‹.
75 Und so geschah es, dass Schostakowitsch am 11. April 1942 den Stalinpreis erster Klasse erhielt.
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    Um sieben Uhr abends am 9. August 1942 – dem Tag, an dem wir die Schlacht um Maikop verloren – wurde die 7. Sinfonie in Leningrad aufgeführt. Wie soll ich diese Geschichte erzählen? Der Adorant Glikmann hat uns einen ausführlichen Bericht von seiner zehntägigen Reise von Taschkent nach Kuibyschew hinterlassen, auf der er sich ausschließlich von zwanzig Fleischpasteten voller Maden ernährte; es gab offenbar für die Flüchtlinge aus dem Leningrader

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