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Konservatorium keinen einfacheren Weg, an eine Abschrift der Partitur zu kommen, als ihn persönlich zu entsenden. Schostakowitsch holte ihn am Bahnhof ab, und sie gingen zu Fuß nach Hause, weil die Straßenbahnen mit Typhus verseucht waren. Für Glikmann war alles, wie immer, perfekt, bis hin zum Diwan von anständiger Größe, auf dem ich einen Monat lang sehr behaglich schlief … Ich war froh, einfach bei ihm zu sitzen und ihm heimliche Blicke zuwerfen zu können in sein hübsches lebendiges Gesicht.
76 Einige Tage darauf spielte sein Held die Siebente auf dem Klavier, nur für ihn, und sagte dann: Wissen Sie, Isaak Dawidowitsch, im Ganzen bin ich gewiss glücklich mit dieser Sinfonie, aber …
77 – Glikmann blickte ihn verwundert an. Der Gastgeber räusperte sich, schenkte ihnen nach und murmelte (Nina und die Kinder hatten sich schon für die Nacht hinter ihren Vorhang zurückgezogen): Ich glaube, Elena Konstantinowskaja ist, Sie wissen schon, nach Taschkent evakuiert worden. Vielleicht könnten Sie sie von mir grüßen. Manchmal nennen ihre, äh, Freunde sie Ljalja. Vielleicht könnten Sie auch – nein, verzeihen Sie, das ist zu privat. Aber bitte übermitteln Sie ihr ein Zeichen meiner Verehrung, Sie verstehen. Nur meines … Nun, jetzt, da ich es mir überlege, vielleicht lieber doch nicht. Sie sind sehr … Aber grüßen Sie alle recht herzlich von mir und überbringen Sie mein, äh, Bedauern, dass diese Sinfonie nicht, Sie wissen schon, optimistischer ist … – Mitte Mai war die Partitur wohlbehalten in Taschkent eingetroffen. (Zu der Zeit
fand Schostakowitsch nach und nach heraus, welche seiner Kollegen in Leningrad umgekommen waren.) Im Juni, als die deutschen Faschisten den Fall Blau begannen (Charkow war schon gefallen), übten die Musiker ihre Partien, um dagegenzuhalten.
Sie trafen in Leningrad ein, als gerade der erste Angriff auf Stalingrad begann. Die Nachrichten hätten wirklich nicht schlechter sein können. Während der Proben erinnerten die leeren Sitzreihen an Grabsteine. Denn wer hätte sich wohl vom Ausheben der Panzergräben entschuldigen lassen können? Man hatte zweitrangige Musiker von der Front zurückbeordert und die Partitur (der Legende nach von Glikmann mit der Hand abgeschrieben) in einer Maschine vom Typ Li-2 vom Flughafen Wnukowo einfliegen lassen. Ranghohe Parteimitglieder fanden sich ein, wie es Stalins Wille war. Radioreporter legten ihre Kabel zwischen die reliefgeschmückten Säulen. Dies war beileibe nicht unser erstes Spektakel dieser Art. Zur Feier des Jahrestages unserer Oktoberrevolution hatten wir in Moskau in den düstersten Augenblicken der Belagerung eine Militärparade abgehalten. Solche Schauspiele seien der Welt eine Lehre, sagte der Genosse Stalin, der wie immer recht behalten sollte; sogar die Amerikaner waren beeindruckt. Warum der Welt diese Lektion in Leningrad nicht noch einmal erteilen? Und dennoch, wie seltsam es doch war, dass unser schlanker, tückisch genialer Mitja, dem die Finger in einem fort zitterten wie Quallententakel, dessen Frau sich weigerte, mit ihm zu schlafen, dessen Geliebte einen anderen geheiratet hatte und dessen Einstellung als formalistisch abgeurteilt worden war, derart herausgehoben wurde, wo wir uns doch schon lange einig waren, dass sein Lebensweg so ausgetreten war wie die Fliesenböden des Leningrader Konservatoriums, dass seine nächste Uraufführung in den Kellern der Lubjanka stattfinden würde, dass seine sogenannte »musikalische Stimme« nichts anderes war als widerhallende Fürze aus einer Tuba hinten im Flur! Und noch seltsamer schien es, dass Leningrad, jener Stadt, ebenso geheimnisvoll, feinsinnig und narzisstisch (und daher ebenso misstrauenerregend) wie ihre Dichterin Anna Achmatowa, so viel Sendezeit eingeräumt wurde! Aber das kann unseren Glauben an den Genossen Stalin nur stärken; er baut mit seinem Genie den Sozialismus aus ganz und gar überraschenden Bausteinen auf. (Der reaktionäre Kritiker Wolfgang Dömling hat, apologetisch, wie ich finde, angemerkt, es sei Schostakowitschs historischer
Aura und dem immensen moralischen Gewicht seines Werkes geschuldet, dass Diskussionen über dessen ästhetischen Wert von untergeordneter Bedeutung blieben.)
78 Wie auch immer, aus Gründen, die allein unsere »Organe« kannten, wohnte Mitja der Aufführung seines eigenen Werkes nicht bei.
Das Oberkommando der deutschen Faschisten zog nun den größten Teil der 11. Armee von einem Angriff auf die
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