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gut gewachsen wirkte, den nächsten Witz.
Eine feindliche Granate kam auf ihn zugepfiffen. Lachend stand er auf und zündete sich eine Zigarette an. Makasejew musste ihn in Sicherheit zerren, zwischen die mit Sandsäcken geschützten Bücherstände der Kusnezkij Most. Unter den Schülerinnen in einem halb ausgehobenen Panzergraben pickte sein Objektiv sich eine heraus, sah sie genauer, als sie sich selbst sah, hielt sie für immer fest und gab sie uns als Siegesengel wieder.
Im Jahr 1944 war er in der Ukraine; dort hatte der Nazi-Gauleiter vorgeschlagen, alle Männer über fünfzehn umbringen und die Frauen nur zu Vermehrungszwecken am Leben zu lassen. Zum Beweis seines Dortseins lege ich das fröhliche Foto der Kinogruppe der Zweiten Ukrainischen Front vor; sie stehen vor einer Hütte mit Strohdach; alle lachen, posieren rund um einen Jeep mit R. L. Karmen am Steuer, neben ihm (aber stehend, nicht richtig auf dem Nebensitz) eine Brünette mit steinerner Miene, die Uniform bis an die Kehle zugeknöpft. Und da kommt seine Nahaufnahme des toten deutschfaschistischen Soldaten, um ein Deutsch-Russisch-Lexikon gekrümmt, als gäbe es zwischenundetwas, das ihn retten könnte.
21 Die vollendeten und die unvollendeten Formen der Verben …
Als erster Journalist filmte er ein Vernichtungslager, die Anlagen von Majdanek. Abgesehen von 1000 lebenden Leichen, die von der Roten Armee gerettet wurden, entkam kein Insasse lebend , ließ er die Welt wissen. Seine Aufnahmen wurden als Beweismittel gegen die Hauptkriegsverbrecher in Nürnberg zugelassen, und ich hörte ihn einmal sagen, am stolzesten sei er in seiner Karriere auf den Beitrag, den er dazu geleistet habe, diese Männer an den Galgen zu bringen. Alle Punkte in beliebiger zeitlicher Abfolge verbinden, rät Dsiga Wertow, also führe ich Ihnen jetzt die düsteren Sequenzen aus R. L. Karmens »Urteil der Völker« aus dem Jahr 1946 vor: Die faschistischen Kriegsverbrecher flüstern mit ihren Anwälten, umgeben von weiß behelmten Militärpolizisten, und warten vor der vom Krieg beschädigten Holzvertäfelung auf ihr Todes
urteil; vor allem die weißen Helme, die aus diesem Blickwinkel und dieser Entfernung fast genauso groß wirken wie die Gesichter, stechen uns ins Auge; die Gesichter der Faschisten sind von einem matten, schwachen Mittelgrau; die Vertäfelung ist dunkler, die Türöffnung darin pechschwarz. Ich war dabei; ich sah Karmen und seinen Kameraassistenten im Schatten stehen, beide mit einer Hand am Stativ, als wäre es ein magischer Gegenstand; Karmen stützte sich mit der anderen Hand an einen eingedunkelten Pfeiler und ließ den Blick durch den Gerichtssaal schweifen, in Erwartung der nächsten Sensation. Später erzählte er mir: Da vor diesem Gericht alles einer strengen Logik folgte, brachte die Endfassung meines Films dieselbe unnachgiebige Logik des Lebens zum Ausdruck.
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Im Jahr 1943, als wir das Unternehmen Zitadelle des Feindes zerschlugen, entstanden einige seiner selbstmörderischsten Aufnahmen. K. M. Simonow, einer seiner wenigen Kollegen an der Front, die damals noch am Leben waren, berichtet, wie Karmen sich kaltblütig aus einem unserer tiefen, mit Gras getarnten Panzerabwehrgräben erhebt und ein Tiger-Panzer sofort eine Granate direkt auf ihn abfeuert! Karmen duckt sich, dann steht er wieder auf; der Film »Schlacht um Orjol« zeigt uns, dass er weitergedreht hat, als er rücklings in den Graben fiel, so dass der Himmel grobkörnig durchs Bild zuckt, und die Granate rast mitten hindurch! Der Tiger kam herangebraust; Karmen filmte ihn frontal; und als eine unsere Zweihundertzweiundzwanzig-Millimeter-Haubitzen ihn ausschaltete, hatte Roman Karmen das im Kasten! Danach betrachteten wir ihn voller Ehrfurcht; gleichzeitig fragte sich mancher von uns, ob er vielleicht unglücklich war und sein Leben deshalb so leichtsinnig aufs Spiel setzte. Unsere Soldaten folgten einem Befehl, wenn sie in den sicheren Tod stürmten, aber Karmen hatte so einen Befehl nie erhalten.
Gleichzeitig war uns allen klar, dass er hellwach war und mit großem Geschick improvisierte und deutete und ordnete, was er sah. Er konnte aus großer Entfernung unterscheiden, ob unsere Katjuschas mit M-13ern oder M-30ern geladen waren. Als die deutschen Faschisten aus ihren Achtundachtzigern das Feuer eröffneten, war die Präzision sei
ner Vorhersagen, wo die Granaten einschlagen würden, erstaunlich. Einmal fragte ich ihn nach seinem Geheimnis und er sagte: Das Geheimnis
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