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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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halten ein paar Soldaten uns eine ausgefaltete Karte hin; Karmen berührt einen Punkt auf ihrem Weiß, artigen Ernst in den Augen.) Schostakowitsch ließ uns die Schleifgeräusche der Leichenschlitten auf der Kirowski-Brücke hören, und in der Ferne verschwanden Fabrikschlote im Weiß; der Genosse R. L. Karmen zeigte uns, wie neue T-34 durch die weißen Straßen knarrten und scharrten, mit offenen Geschütztürmen, die Kanonen geradeaus! Er stellte uns zu unbezwingbaren Reihen auf, die Gewehre in der Hand. Im Radio hörte er die zerquälte Lyrik der Achmatowa – Licht fällt ein blutrot. Und wieder gehen im Rauch die Leningrader in Reihe und Glied: Der Ruhm kennt keine Toten
19  –, und gleich beschloss er, einen Film über die Straßenbahnfahrerinnen Leningrads zu drehen, damit die ganze Welt sie lieben und bewundern könnte. Was ist Wahrheit? Plato sagt: Die Maske des Schauspielers wird sein Gesicht. Unsere Überempfindlichkeiten unterscheiden sich so sehr wie unsere elementaren Bedürfnisse. Was für den einen der krönende Liebesbeweis ist, weist der andere ab mit den Worten: Wenn du mich liebst, wirst du mich nicht zwingen, das zu tun. Und was ein jeder Liebender unter Hingabe versteht, bleibt unanfechtbar, zumindest für ihn selbst.
    Was auch immer Karmens Definitionen gewesen sein mögen, sie verfestigten sich, als er die Galgen von Wolokolamsk sah. Gewaltsamen Tod in China oder Spanien zu filmen ist das eine. Eine Invasion des eigenen Vaterlandes zu dokumentieren, ist etwas anderes, und Zeuge zu werden, wie Unschuldige, von denen mancher ein Freund gewesen sein könnte, massenhaft gefoltert und ermordet werden, ist noch wieder etwas anderes. Ob er die berühmte Leiche der Soja Kosmodemjans
kaja mit eigenen Augen gesehen hat, habe ich nicht überprüfen können, aber er kannte den Fotoreporter Lidin – Karmen kannte alle und jeden! –, und Lidin war es, der ihren Tod verewigte. Nun wuchs sein Wunsch, der Menschheit zu dienen, ins Unermessliche, und er begriff von ganzem Herzen, nicht nur mit dem Kopf, was Gorki gemeint hatte, als er von der Liebe sprach, die Quell und Nahrung von Lenins Hass auf den Klassenfeind war. Man durfte die Deutschen nicht mehr als Menschen betrachten! Er erinnerte sich an jene Frauen und toten Kinder, die ihn vor all den Jahren in der Käthe-Kollwitz-Ausstellung so tief bewegt hatten; nun ergötzte er sich rachsüchtig an ihrem Leid. Wenn er doch nur alle deutschen Männer, Frauen und Kinder eigenhändig umbringen könnte …!
    In einer einzigen Nacht entwarf er das Drehbuch seines Spielfilmporträts von Alexei Surkows »Späher Paschkow«, der von den Faschisten gefangen genommen, gefoltert und erschossen wird und dann zu uns zurückkehrt und uns hinter ihre Linien führt, um sie niederzumetzeln!
20 Er beugte sich über seinen Feldschreibtisch. Es würde eine Krankenschwester namens Ljuba geben mit langem schwarzen Haar wie Elena; ein kasachisches Kamel würde den Geschützwagen ziehen. Sein Ehrgeiz reichte so weit wie die Rohre der Siebenunddreißig-Millimeter-Geschütze unserer Schturmowiks.
    Stalin befahl dem Genossen Woronow, seine Panzerabwehrbataillone in Regimenter umzubenennen, der Kampfmoral und besseren Kontrolle wegen. Roman Karmen untertitelte seine Wochenschaufilme entsprechend. Die schneebedeckten Füße einer Leiche in Leningrad, was hätte Käthe Kollwitz daraus gemacht? Roman Karmen wusste, was zu tun war; Zweifel waren ihm fremd; er hatte auch keine Zeit dafür.
    Selbst da noch hielt sich in seinen Arbeiten eine Spur der Raumkonstruktionen Rodtschenkos, des Pathos und der gelegentlichen Gefühligkeit der Kollwitz. Gerade so wie für Schostakowitsch die Wissenschaft von der richtigen Tonlage die Notation jedes einzelnen Schreis zwischen den beiden Stacheldrahtzonen forderte, verlangte objektive Filmarbeit für Roman Karmen die Wiedergabe der seltsamen Winkel, die in den Gesichtern Hungernder aufscheinen.
    Er arbeitete wieder mit Boris Makasejew zusammen, drehte »Niederlage der faschistischen deutschen Heere vor Moskau« und stützte sich dabei so selbstverständlich auf den Schwenkgriff wie ein Arbeiter
auf seine Schaufel. Wie er sich danach sehnte, zu sehen, wie wir dem Feind einen vernichtenden Schlag zufügten! Er entdeckte einen bleichen Arbeiter mit Schutzhelm, der hasserfüllt der nächsten Salve der Faschisten entgegenknurrte, und nahm ihn auf; er bewahrte ihn für die Ewigkeit. Dann erzählte er Makasejew, neben dem er immer besonders geleckt und

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