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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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getötet.
    Zwei Soldaten mit Reif auf den Maschinenpistolen haben sich verfahren und beugen sich über ihre auf dem eingefrorenen Lastwagenmotor ausgebreitete Landkarte. Vor und hinter ihnen erstrecken sich Ruinenlandschaften. Vielleicht werden sie heute sterben, aber Roman Karmen hat sie gefilmt; er möchte, dass sie ewig leben. Einen langen Augenblick lang sehen wir sie in seinem Wochenschaubericht und fühlen mit ihnen; wir wollen, dass sie Leningrad sicher erreichen. Roman Karmen ist ein Mann mit Gefühl! Im gleichen pelzgefütterten Wintermantel, in dem er »Die Männer der Sedow« gedreht hat, steht er da, knietief im Schnee von Leningrad, hinter ihm tiefschwarz das Skelett eines zerstörten Busses. Kopf und Schultern zurückgeworfen, den Blick aber weiter geradeaus gerichtet, stützt er die Filmkamera an seinem Herzen ab.
    Die halb verdunkelten Augen von Versorgungslastern kriechen auf dem Eis des Ladogasees durch den Nebel. Er springt auf eine Seite, filmt sie, steigt auf einen anderen Laster, voller missmutiger Soldaten, die ihm noch nie begegnet sind; binnen dreißig Sekunden bekommt er sie mit seiner Nachahmung des lachenden Mannes aus »Wolga-Wolga« zum Grinsen.
    Er kam heim, und sie saß am Grammophon und lauschte Schostakowitschs Cellosonate in d-Moll (op. 40, glaube ich). Er setzte sich neben sie, und sie blickte ihn verärgert an.
    23
    Eben hatte er erfahren, dass man seinen Antrag, auf der Konferenz über amerikanisches und britisches Kino sprechen zu dürfen, genehmigt hatte. Alle würden dort sein, sogar Eisenstein, weil die Amerikaner seinen Namen kannten; Karmen sollte einen Vortrag über Spielfilme halten. Das bedeutete viel Spaß und gutes Essen, was beides in den Kriegsjahren nicht leicht zu haben war, und er hatte geglaubt, dass Elena ihn begleiten würde; eigentlich hatte er sich ihretwegen beworben. Aber nun mussten sie, wie man so sagt, ein bisschen reden , wobei sie langsam und vorsichtig immer deutlicher zum Ausdruck brachte,
wie verzweifelt sie war, und ihn dabei die ganze Zeit im Auge behielt, um sicherzugehen, dass sie ihm keine tödliche Dosis verabreichte. Es war wie damals, als eine Krankenschwester, die er gern hatte, im Trommelfeuer der Faschisten umgekommen war und sie sich zu ihm gesetzt und ihm erst gesagt hatten: Roman Lasarewitsch, es gibt wirklich schlechte Neuigkeiten, und dann: Es tut uns sehr leid, aber es ist etwas passiert, und so weiter, und so weiter, y demás , wie die Spanier sagen würden. In dieser Art fragte Elena ihn, wie er über ihr Zusammenleben denke, was er denke, was er denke, immer was er denke! Schließlich begriff er: Sie will, dass ich die Drecksarbeit selbst erledige!
    Das ist unfair!, rief er matt.
    Ich verstehe, sagte Elena, offenbar zu Freundlichkeit bereit, solange sie ihr Ziel erreichte. Normalerweise wurde sie wütend, sobald er ihr Unfairness vorwarf.
    Denkst du überhaupt darüber nach?, fragte sie ihn immer wieder.
    Nach einer Weile kam er sich vor wie eine Figur in einem Stummfilm – einem halb stummen Film, sollte ich sagen, denn ihre Worte konnte er noch immer hören und sich merken, aber alles, was er selber sagte, hätte ebenso gut stumm sein können.
    Ich wollte dir zeigen, dass du glücklich sein darfst. Du verdienst eine bessere Frau als mich.
    Du bist mir eine große Stütze gewesen, sagte sie. Ich weiß nicht, was ich ohne dich machen soll.
    Ich enttäusche dich, ich weiß, schluchzte Elena. Es tut mir ja so leid. Ich verliere dich so ungern.
    Schon in Ordnung, sagte Karmen müde.
    Er warf sich seine Öljacke über und ging. Sie hatte ihn gebeten, sie anzurufen, damit sie sich keine Sorgen um ihn machen müsse, aber er tat es nicht. Sie wusste, wo er übernachten würde: im Studio natürlich. Zwei Tage darauf rief sie ihn an und er brach in Tränen aus. So wirkte Elena auf die Menschen.
    Er schluchzte: Als es anfing, war ich mir sicher, dass es beiderseitig ist, aber das ist es nicht mehr. Jedes Mal, wenn das Telefon läutet, hoffe ich, dass du dran bist, und jetzt, da du dran bist, hoffe ich, dass du sagst: Bitte nimm mich wieder auf. Du bist der Richtige für mich.
    Ein großer Teil von mir will dich wirklich nicht verlieren, tröstete Elena ihn.
    24
    Dies geschah erst im Sommer 1943, kurz vor Beginn des Unternehmens Zitadelle. Im Jahr 1942 arbeitete er an »Niederlage der deutschen Truppen vor Moskau« mit und führte Regie bei »Kampf um Leningrad«. Ich habe schon berichtet, wie ich ihn in Stalingrad erlebte, als er eifrig

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