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Alexandrow. Aber wenn ich ihn nicht ansprechen und ihn ihr gegenüber nicht erwähnen darf, werde ich mich weiter so verhalten müssen, als glaubte ich ihr.
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Dann, einen Monat darauf, als er in der Ukraine war (und er wusste sehr wohl, dass er sie mit einer so weiten Reise enttäuschte und im Stich ließ, dass er lieber weiter für das Sowkino-Journal Dokumentarfilme über heimische Landwirtschaftskollektive hätte drehen sollen), rief sie ihn an und er sagte:
Und, was hast du gestern Abend noch gemacht?
Ach, ich bin nicht zu Hause geblieben. Ein Freund hat mich angerufen, und wir sind etwas trinken gegangen …
Ach wirklich? Wer denn?, fragte er beiläufig. Das hatte er noch nie gefragt.
Es blieb still, und dann sagte sie ganz leise: Schostakowitsch.
Er fühlte sich, als hätte sie ihm in den Bauch getreten.
Oh, sagte er.
Du klingst verärgert, hörte er Elena sagen.
Oh, nein, gar nicht. Ich bin nicht verärgert. Wie oft seht ihr euch? Ich glaube, du hast lange nicht mehr von ihm gesprochen.
Er ist … ein recht enger Freund.
Oh, sagte er noch einmal und wechselte das Thema.
Natürlich ist sie dir untreu, Roman Lasarewitsch. (Das war die Ansicht all seiner Freunde.) Ein Mann führt eine Frau nicht regelmäßig
zum Essen aus, wenn er dafür nichts von ihr bekommt, besonders wenn sie verheiratet ist.
Ich weiß, ich weiß.
Und?
Ich glaube, es ist mir wirklich egal. Wenn sie es mir nur erzählen würde, dann …
Jetzt sprichst du in halben Sätzen, genau wie dieser Schostakowitsch.
Es ist nur so, dass ich die ganze Zeit an sie denken muss.
Härter Arbeiten, Roman Lasarewitsch! Das ist die beste Medizin!
Ich weiß. Aber es ist seltsam, meine Arbeit bedeutet mir nichts mehr. Ich weiß, das ist lächerlich, aber manchmal habe ich das Gefühl, dass meine Liebe zu ihr das einzig Echte an mir ist.
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Elena stand links von dem Schreibtisch, an dem ihr Mann im Licht der Lampe arbeitete, eine Feldflasche und seine Aufzeichnungen neben sich, mit dem Belichtungsmesser als Briefbeschwerer auf einer Ecke des Papiers, und lächelte ihn liebevoll an.
Glaubst du, es gibt überhaupt noch Hoffnung?, fragte er.
Ich kann nicht ehrlich behaupten, dass ich noch Hoffnung hätte, sagte sie sanft.
Aber sie blieben trotzdem zusammen.
Und jetzt war der Krieg ausgebrochen, und wann immer er sie zu sehen bekam – viel öfter als die meisten Männer ihre Frauen –, fühlte er sich eingeengt. Er konnte nicht vergessen, dass sie ihn gruselig genannt hatte, weil er mit ihr an abgelegenen Orten ganz allein sein wollte.
Ich habe Ihnen schon berichtet, wie er in der Zeit des nationalsozialistisch-sowjetischen Idylls auf dem Eisbrecher Josef Stalin mitgefahren war, um die Rettung der Sedow und ihrer dreizehn Mann Besatzung zu filmen. Achthundertzwölf Tage lang steckte das Schiff im Eis fest. Die magnetischen Stürme, die Kälte, die Stille würde er nie vergessen. Und doch hatte ihn das alles nicht deprimiert; er war ein Abenteurer; er genoss die Erfahrung! (Schostakowitsch hätte sich umgebracht.) Das Schlimmste am Leben im Eis ist natürlich die Einsamkeit, aber ein geselliger Mensch ist dagegen gewappnet. Nie gingen Roman Karmen die Witze aus. Er teilte eine Kabine mit seinem Kameramann W. Schtatland
und seinem Tonmeister Ruwim Chalulaschkow; wenn einer von ihnen griesgrämig wurde, wusste Roman Karmen, wie man ihn zum Lachen brachte. [ 25 ] Defätismus ist ein Verbrechen. Sie zeichneten Reparatur und Wiederzusammenbau der Maschine der Sedow auf. Die Maschine lief an; die Sedow war gerettet; wieder hatte ein Roman-Karmen-Film sein Happy End gefunden! Aber nun saß er, daheim bei Elena, erneut im Kalten; unglücklich saßen sie nebeneinander in der eiskalten Kapitänskajüte.
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Er fragte sie, ob sie sich sicher sei, dass er das Problem sei und nicht sie, und sie sagte, sie sei sich sicher.
War es mit Schostakowitsch auch so?
Nie.
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Man bot ihm an, die Uraufführung von Schostakowitschs Leningrader Sinfonie zu filmen, aber er wollte Schostakowitsch nicht sehen; obwohl Arnstam ihn schalt, behauptete er, keine Zeit zu haben. Stattdessen beantragte er seine Versetzung aus der Zentralen Frontkinogruppe und drehte »Leningrad schlägt zurück!«. (Von einem gigantischen Plakat blickte unter einem Feuerwehrhelm schüchtern D. D.
Schostakowitsch auf ihn herab.) Er kroch mit seiner Kamera über das Eis des Ladogasees, um die Qualen der Verteidiger zu filmen und sie zu ermutigen, und wurde vier Mal beinahe selbst
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