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Spanne von zwanzig Tagen, die Wlassow zwischen dem sowjetischen und dem Nazi-System aushielt, war, wie Biografen gerne sagen, »für seine Entwicklung entscheidend«. In der ersten Phase versuchte er guten Glaubens weiter, eine Lücke in den Linien der Deutschen aufzuspüren, um die Beinahe-Wunder von Lwow und Kiew zu wiederholen. Dieser Zeitabschnitt endete an jenem Tag, als er, der Oberstleutnant und der Aufklärer irgendwo in der Nähe von Mostki eine ertrunkene Feldmausfamilie gegessen hatten. Der Aufklärer hatte den Stacheldraht schon hinter sich und der Oberstleutnant hielt zwei rostige Drähte auseinander, damit Wlassow hindurchsteigen konnte, als sich die aufgerichtete Nadel eines fernen Panzergeschützes in Bewe
gung setzte. Als er sich wieder in seinem Körper fand, spürte er überall Blut, aber es war nicht seines. Von deutschen Helmen blitzte das Sonnenlicht wider, und deutsche Waffen spürten ihn auf. Er ließ sich zu seinen Kameraden in den Krater hinabrollen, schloss die Augen, konnte sich aber nicht mehr an das Gesicht seiner Frau erinnern. Nach einer ganzen Weile, als die Detonationen der Granaten im Osten lauter zu werden schienen, setzte er sich nach Süden ab, in die Sümpfe. Er suchte noch weiter nach einem Weg zurück in die Tadellosigkeit, aber er hatte den Glauben verloren, und die Motorengeräusche piesackten ihn fast so sehr wie die Fliegen auf seiner blutbefleckten Uniform. Silbrige Bäche und silbriger Himmel, sandiger Schlamm, gewaltige Bäume und ab und zu eine Uniform mit einer Masse halb Fleisch halb Brühe darin – dieses Sumpfland der Taiga, diese schrumpfende Vorhölle sowjetischer Souveränität, blieb auf den Karten beider Feinde weiß und leer wie eine Heldenstirn. – Hätte Wlassow sich dort sein Grab suchen sollen? Fragen Sie den Genossen Stalin. – Jedenfalls trieb der Hunger ihn heraus.
Mitten in der zweiten Phase stieß er nahe der Straße nach Luga, nicht weit von der Stelle, an der Puschkin zu seinem tödlichen Duell angetreten war, auf die Leichen von fünfzig Bäuerinnen, die unter freiem Himmel neben ihren zertrampelten Kochstellen lagen. Jede war auf ihre Weise gestorben, wie Menschen es eben tun, manche mit dem Gesicht zur Erde, eine andere vielleicht auf der linken Seite, die Beine in einem letzten Krampf verdreht, und eine lag unerklärlicherweise sogar auf dem Rücken, die Hände über dem Herzen gefaltet, als hätte ein Mensch, der sie liebte, sie für ein Begräbnis zurechtgelegt. Was diese Manifestationen des Individualismus zu einer rätselhaften Parabel allgemeinen Verhängnisses formte, war die Tatsache, dass man jedem der Opfer in die Schädelbasis geschossen hatte – eine Hinrichtungsart, die in der deutschen Sprache, die für jede Gelegenheit ein Wort zur Hand hat, »Genickschuss« heißt. Patronenhülsen glitzerten im blutbedeckten Gras. Ich vermute, nicht einmal Wlassow selbst hätte in diesem Augenblick seine Gefühle beschreiben können, obwohl er so viele Gräuel gesehen hatte wie jeder andere Militär, besonders beim Fall der Stadt Kiew. Auf dem Schlachtfeld kommen Leichen eher in zufälligen Haufen vor, die zusammengewürfelten Knie und Ellenbogen erinnern an aus großer Höhe fotografierte Bergzüge. Wlassow hatte sich angewöhnt, solche Tode als Unfälle zu betrachten. Aber diese Frauen la
gen in regelmäßigen Abständen in einer Reihe, wie Deserteure, nachdem der Kommissar das Urteil verhängt hat. Es ist vielleicht angebracht, zu erwähnen, dass einmal gewisse Geheimbefehle, die beim Rückzug der 32. Armee nach Moskau versehentlich zurückgelassen worden waren (Befehle, die seither lange überrannte Stalin-Linie zu halten), Wlassow Anlass gegeben hatten, in ein vor einer Stunde geräumtes Dorf zurückzukehren. Leider muss ich sagen, dass er die Bauern in völliger Verachtung der Sowjetmacht vorfand, wie sie schon Brot und Salz als traditionelle Willkommensgabe vorbereiteten, ganz offensichtlich für die nahenden Faschisten. Mit Mühe hielt Wlassow den Maschinengewehrschützen davon ab, diese Verräter mit Blei vollzupumpen. Das kann man ihm vielleicht zum Vorwurf machen. Seine Abneigung gegen Mord war schließlich der Grund, warum er die Erlaubnis zum Rückzug aus dem Wolchow-Kessel erbeten hatte. Welchen Nutzen brachte es, die 2. Stoßarmee ohne jede Hoffnung auf einen taktischen oder strategischen Durchbruch abschlachten zu lassen? Aber der Genosse Stalin hatte erwidert: Sie werden die Front um jeden Preis halten. – Diese
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