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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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Schützengräben Ausheben, am kalten Samowar lehnte, sich selbst umklammert hielt und dabei die Hände in den Mantelärmeln vergrub, um sich zu wärmen, ohne ein Licht in der Wohnung, von dem einer Kerze abgesehen. Bald würde sie mit den anderen unter der Erde schlafen, im Gewölbe eines U-Bahnhofs. Ein Mann mit himbeerroten Stiefeln fragte einen Eisenbahnarbeiter nach dem letzten Zug nach Kuibyschew. Was Wlassow anging, er rechnete damit, innerhalb einer Woche zu fallen.
    Im Dezember führten die 20. Armee und die 1. Stoßarmee erfolgreiche Gegenschläge gegen die faschistische deutsche Heeresleitung. Solnetschnogorsk wurde befreit; der Feind hatte Wolokolamsk in Vorbereitung des Rückzugs schon in Brand gesetzt. Und so rief der Kommissar die Soldaten der 20. Armee dazu auf, ihre Anstrengungen zu verstärken. Er betonte, dass sie nun über vierundfünfzig Panzer verfügten, wofür sie dem Genossen Stalin zu danken hätten. Er erzählte ihnen von den schulterhohen Panzerabwehrpyramiden, die alle von kleinen Mädchen in Leningrad gebaut worden waren. Aus seinem Unterstand tauchte Wlassow auf, der die strategischen Maximen Napoleons studiert hatte, und die Ansprache des Kommissars wurde von Jubelrufen übertönt. Wlassow lächelte scheu. Am selben Abend führte er seine Männer wieder in die Schlacht und scherte sich dabei bewundernswert wenig um seine eigene Sicherheit. Er war ungewöhnlich groß und überragte die anderen klobigen und klotzigen, in ihrer Winterkleidung unförmigen Männergestalten, die Köpfe angeschwollen und abgeflacht wie riesige Schraubbolzen, die Schultern aufgepolstert und eckig. Sie eroberten Wolokolamsk. General Rokossowski funkte Glückwünsche und Dank; der Kommissar dagegen warnte die für die Sicherheit zuständigen »Organe«, A. A. Wlassow könnte ein unzuverlässiges Element sein.
    Als seine Fotografie zu Silvester in einer Porträtgalerie berühmter Generäle in der Iswestija erschien, konnten sie Geländegewinne bis ganz an die Linie Lama-Risa verbuchen. Über eine halbe Million Deutscher starben im Schnee. Man fand ihre Leichen oft in unförmigen Überschuhen aus Stroh, denn die faschistische Heeresleitung hatte ihnen keine Winterausrüstung ausgegeben. Die Befreiung von Moschaisk stand unmittelbar bevor. Am 24. Januar 1942 wurde Wlassow der Rotbannerorden verliehen.
    Er war nun Generalleutnant. In jenen Jahren bleicher Männer, die auf Karten herabblicken, gab es viele kometenhafte Karrieren – blitzartige Beförderungen und Hinrichtungen, treu ergebene Aktionen, Heldenbegräbnisse –, aber keine war dramatischer als die seine. Er war ein bescheidener Mensch, ein Bücherwurm, der genau wusste, wann man die Politik sich selbst überlassen musste – nämlich immer. [ 29 ] Und bis zu diesem Zeitpunkt hatte sich diese Enthaltsamkeit eindeutig als Tugend erwiesen. Bei Besprechungen mit seinen Stabsoffizieren war er weniger geneigt, die Unausweichlichkeit eines sowjetischen Sieges anzuführen, als ihre Aufmerksamkeit auf ein brillantes Schlachtmanöver Peters des Großen zu lenken. Irgendwo hatte er sich eine Abhandlung des hingerichteten Tuchatschewski beschafft. Später wurde außerdem gegen ihn ins Feld geführt, dass er es gewagt hatte, das taktische Geschick des faschistischen Panzergruppenkommandeurs Guderian zu loben. Wlassow fand, es genüge, den Feind genau genug zu kennen, um seine Wissenschaft abzukupfern; er wollte seine Zeit nicht damit verschwenden, ihn zu verabscheuen. Er war stolz auf seinen Rationalismus, der im Grunde eine Art Mut war (wirklich, man kann ihn mit dem edelmütigen Atheismus des wahren Bolschewiken vergleichen, der ohne Hoffnung auf den Lohn im Jenseits kämpft und stirbt), sah aber nicht voraus, wie schwach sich dieser im Widerstand gegen die Speerspitzen eines fremden Willens erweisen sollte.
    Ende Februar schloss er zum letzten Mal seine Frau in die Arme. Die Ringe unter ihren Augen waren schwarz und gelb wie die Flecken, die detonierende deutsche Nebelwerfer-Granaten im Schnee hinterließen. Ihr hingehauchter Abschied klang beinahe gleichgültig; er wusste nicht, ob sie wirklich entschlossen war, durchzuhalten.
    Im März, kurz vor der Uraufführung von Schostakowitschs 7. Sinfonie, ernannte der Genosse Stalin ihn zum stellvertretenden Kommandeur der Wolchowfront. Das strategische Ziel: die Belagerung von Leningrad zu brechen. Ein unmöglicher Auftrag natürlich, aber was wäre in diesem Stadium des Krieges nicht unmöglich gewesen? – Wlassow

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