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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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befreien könne. Sie wollten wissen, warum er noch nicht ausgebrochen sei. Seine äußere Erscheinung verkam zusehends. Er wusste sehr gut, dass der 2. Armee nichts anderes bevorstand als das, was der Feind »Kesselschlacht« nannte: ein Schlachtfest. Er aß nicht besser als seine Fußsoldaten und zögerte nie, sich feindlichem Feuer auszusetzen. Man mag es ein Zeichen nennen, dass sich neben dem Erdloch, das ihm in jenem Frühjahr als Befehlsstand diente, aus einem Haufen Eis und Stahl die steifgefrorene Hand einer Leiche reckte.
    2
    Am 24. April war General K. A. Merezkow, Wlassows ehemaliger Vorgesetzter, um die Lage der 2. Stoßarmee mehr als besorgt. – Wenn nichts unternommen wird, ist eine Katastrophe unausweichlich, sagte er dem Genossen Stalin. – Stalin zuckte die Achseln.
7
    Dieser Merezkow war schon einmal wegen des Verdachts auf antisowjetische Aktivitäten verhaftet worden. Die Tatsache, dass sich nie ein Beweis für seine Schuld finden ließ, machte den Fall nur umso ernster. Man sollte ihn wenigstens wegen Defätismus verurteilen. Wie viel zu viele Kommandeure forderte er ständig Verstärkung oder bat um die Genehmigung eines Rückzugs. (Es gab keine Verstärkung, und je
der weitere Rückzug konnte bedeuten, dass Moskau fiel.) Deshalb hatte Stalin ihn gerade gestern von der Wolchowfront abgezogen. Merezkow hatte Glück. Mehrere seiner Kollegen waren erschossen worden, weil sie Schlachten verloren hatten. Am 8. Juni sollte dieser rundgesichtige Held der Sowjetunion mit seinen geschwungenen Augenbrauen wieder in Amt und Würden eingesetzt werden, mit einer Entschuldigung Stalins. Er sollte Stalin sogar überleben. Als Stabsangehöriger des Verteidigungsministeriums, Abgeordneter des Obersten Sowjet, siebenfacher Träger des Leninordens (Wlassow hatte ihn nur ein Mal erhalten) erhielt er am Ende ein Ehrengrab an der Kremlmauer.
    Wlassows Fußsoldaten seufzten einander inzwischen zu: Wenn der Genosse Stalin nur wüsste, wie man seine Vorgaben sabotiert!
    Eine fotografische Millisekunde lang hing eine schwarze Wolke über einem Panzer, weich, fast wie ein Embryosack, dann aber fiel sie in sich zusammen; sie bestand aus Erde, Stahlstreben und Geröll.
    Wlassow wurde zu einem Gespräch mit Stalin an das Rote Telefon beordert.
    Welche Einwände haben Sie gegen die Fortsetzung der Offensive, Genosse Wlassow?
    Wir können diesen Abschnitt noch ein paar Tage halten, aber der Feind ist so weit eingedrungen, dass unsere Brückenköpfe unter Druck geraten.
    Erklären Sie mir dieses Versagen.
    Nun, ihre Panzer sind nicht länger eingefroren. Die Faschisten haben ihre Mobilität zurückerlangt …
    Einen Augenblick lang hörte Wlassow nichts als schweres, müdes Atmen, und dann sagte die metallische Stimme: Wir können keine Truppen zur Verstärkung erübrigen.
    Wenn die 1. Stoßarmee vielleicht …
    Unmöglich. Die Nordwestfront wäre in Gefahr.
    Dann das 6. Gardeschützenkorps …
    Nein.
    In diesem Fall erbitte ich die Erlaubnis, sofort einen Ausbruch zu versuchen.
    Ihre Analyse ist nicht korrekt, erwiderte Stalin. Sie werden die Front um jeden Preis halten.
    Damit war die Verbindung unterbrochen. Traurig hockte Wlassow
bei Kerzenlicht in seinem Unterstand. Er hielt sich den Hörer einen Augenblick lang ans Ohr, er nickte. Er lächelte sogar. Er erinnerte sich an einen Satz: Diese Männer können sich von der Erinnerung an den Stellungskrieg nicht freimachen.
    Nun, Genosse General?, sagte der Kommissar.
    Ein Rückzug wäre verfrüht, sagt er.
    Ich weiß, wie Sie sich fühlen müssen. Aber wenn der Genosse Stalin die Linie vorgegeben hat, bleibt uns nichts, als ihr zu folgen.
    Dann sind wir zum Untergang verdammt. Binnen einer Woche werden sie uns mit Artilleriefeuer eindecken …
    Gereizt antwortete der Kommissar: Vom militärischen Gesichtspunkt aus mag alles, was Sie sagen, stimmen, aber politisch gesprochen stimmt daran nichts. Sie sollten sich vorsehen. Ich habe gehört, Ihr ältester Bruder sei im Bürgerkrieg wegen antibolschwistischer Aktivitäten erschossen worden …
8 Der Alarm ertönte.
    Die Telefonleitungen sind tot, Genosse General!
    Schicken Sie mir den Verbindungsoffizier.
    Er ist gefallen.
    Am 24. Juni, als die Scheren der deutschen Zange sich längst geschlossen hatten, informierte Wlassow seine Soldaten, die letzte Hoffnung sei der Versuch, in kleinen Gruppen auszubrechen. Mit diesen Worten wünschte er ihnen viel Glück, und die 2. Stoßarmee löste sich in Flüchtlinge auf.
    3
    Jene

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