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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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sagte: Genosse Stalin, ich nehme die Aufgabe an.
    In jener Nacht flogen sie ihn in die düstere schneebedeckte Taiga. Zwei Divisionen von nahezu Vorkriegsstärke erwarteten seine Befehle. Einen Rückzug würde man nicht durchgehen lassen. Auch durfte niemand sich gestatten, von den Faschisten gefangengenommen zu werden, das wäre Kollaboration. Wlassow hatte also allen Grund, den Sieg zu wollen.
    Er soll seinen Frontabschnitt mit einer geradezu mönchischen Entschlossenheit infiziert haben. Seine Sibirer, ohne Ausbildung und halb verhungert, vergötterten ihn. (Warum sollen wir sie uns in unserer Erinnerung nicht in den scharlachroten Umhängen und mit den Heiligenscheinen russischer Ikonen denken, das Dunkel des Waldes zwischen ihren Gesichtern von Kapillaren aus Gold durchzogen?) Milde, wann immer möglich, aber immer direkt, erklärte er sich mit Hilfe gewöhnlicher Sprichworte (wie alle kommunistischen Helden war er der Spross armer Bauern) und erinnerte sie daran, dass der Sieg der einzige Weg sei, ihren Tod hinauszuzögern. Ein paar von ihnen waren mit Panzerbüchsen ausgerüstet. Die anderen Staaten hatten diese Waffe längst abgeschafft, denn der Mann, der sich einem Panzer entgegenstellt, kann den Kampf kaum gewinnen, aber damals hatte die Sowjetunion keine andere Wahl. [ 30 ] Die sibirischen Schützen lächelten Wlassow an und
rauchten ihre Machorka-Zigaretten. Dann gingen sie für ihn sterben. Das Gleißen wie von einem Schweißgerät, immer wenn ein Panzer getroffen war, es wurde ihnen zum ewigen Licht. Und dennoch kam unser Angriff ins Stocken und fror ein.
    Sie hausten in einem Kessel von der Form eines Hammerkopfes, dessen Stiel die Front zwischen Nowgorod und Spaskaja Polist querte und sich dann westlich der Luga zu einer runden Fläche erweiterte. Deutsche Panzer richteten ihre Geschütze auf sie, aber die Panzer waren eingefroren und ihre Geschützmündungen voller Schnee. Solange die Kälte anhielt, war die 2. Stoßarmee in Sicherheit. (Gegen ihn standen: die zweihundert Panzer der deutschen 8. Armee und ihre zwölfhundert Panzerhaubitzen.) Ruhelos über dem statischen Spielfeld brütend, las Wlassow noch einmal die Aufsätze Guderians. Eine bestimmte Anspielung auf die Fehler militärischer Traditionalisten ließ ihn nicht mehr los: Diese Männer können sich von der Erinnerung an den Stellungskrieg nicht freimachen, erblicken in ihm die Kampfform der Zukunft und bringen den Willen, alles, aber auch alles an eine rasche Entscheidung zu setzen, nicht auf.
6 Guderians Kritik klang zutreffend. Die Frage war nur, in welcher Ödnis strategischen Denkens er, Wlassow, eingefroren blieb. Der Stellungskrieg hatte die Kavallerieangriffe abgelöst, weil ein einziges Maschinengewehrnest noch die tapferste, feurigste Reiterbruderschaft dezimieren konnte. Was konnten die Krieger da anderes tun, als sich einzugraben? Dann kamen das Flugzeug und die Panzergruppe, der Blitzkrieg. Der Stellungskrieg war für immer obsolet geworden. Aber gerade der Erfolg des Blitzkriegs hatte diesem bereits seine eigenen Traditionalisten beschert. Panzersoldaten stürmten mit der gleichen Waghalsigkeit voran wie ihre Väter von der Kavallerie. Die Versorgungswege wurden länger; der Maschinerie der Faschisten war vor Moskau der Treibstoff ausgegangen. Wie konnte man dieses Phänomen auf breiter Front nutzen?
    Er missachtete die Empfehlung des Kommissars und las wieder Tuchatschewski, der darauf beharrte, ein Blitzangriff könne mit Hilfe
von Planung, Entschlossenheit und strategischen Reserven zurückgeschlagen werden. Weder auf Planung noch Reserven konnte er zurückgreifen. Er sagte dem Kommissar: Wenn wir nur hundert Panzer hätten …
    Er las Caulaincourts Darstellung der Niederlage Napoleons vor Moskau. Zeit, Raum und Wetter hatten Napoleon niedergezwungen.
    Ganz selten einmal entdeckte seine Nachhut nachts auf der vereisten Straße die vielen verkrusteten Augen eines Lastwagenkonvois. Die Faschisten nahmen ihn kaum je unter Beschuss. Manchmal landete ein Flugzeug und brachte Sendboten des Genossen Stalin, die ihm Anweisungen bringen und ihn aushorchen sollten. Von einem Ring aus Minenfeldern eingeschlossen, hatte er nun die volle Befehlsgewalt. Sie versprachen ihm, das 6. Gardeschützenkorps zu schicken, aber daraus wurde nichts. Sie versicherten ihm, dass sich die 1. Stoßarmee noch vor dem Tauwetter mit ihnen vereinigen würde und er dann die Faschisten bei Ljuban umgehen, Nowgorod retten und das hungernde Leningrad

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