Europe Central

abschritt.
    In seinem neuen Quartier im Hotel Russischer Hof hörte er auf dem Grammophon Liszt und glaubte weiter an den deutschen Endsieg, und sei es nur, weil alles andere für seine Träume so böse Folgen haben würde. (Was waren seine Träume? Er legte sich hin, ließ die Füße über die Bettkante baumeln und träumte, in den Armen seiner Frau zu liegen, aber sie war ein sechsarmiges Ungeheuer mit einem Antlitz aus Messing, das ihm die Luft abschnürte, und er konnte sich nicht befreien. Er wachte auf und schnappte nach Luft, und die restliche Nacht über starrte er völlig verunsichert und verzweifelt an die Decke.) Europa wurde (in Abwandlung der Worte Guderians) eine Festung, nach Umfang und Tiefe des Verteidigungsraumes unbegrenzt, und warum sollte diese Festung nicht jeden Durchbruchsversuch zunichtemachen?
25 Die Katastrophe von Stalingrad ließ ihn stutzen, aber am Ende schien es ihm umso dringender, sich wieder an die Front zu begeben und sein Talent zu entfalten, anstatt seinen Namen unter anderer Leute Propaganda zu setzen. Seine Kollegen beriefen sich mit einer so beruhigenden Festigkeit auf den Führer, dass die nahende Begegnung mit Sicherheit alles klären würde. Und Strik-Strikfeldt rief wieder an und erklärte, er habe nun die Unterstützung einer einflussreichen Fraktion im Oberkommando …
    Und tatsächlich versuchte unser fröhlicher Balte, dessen Beweggründe unleugbar seiner Herzensgüte entstammten, weiter sein Möglichstes, seinen Freund auf das zu stellen, was er »festen Boden unter den Füßen« nannte. Sein Einfluss war zwar weniger groß, als Wlassow glaubte, aber doch beträchtlich. Er schrieb Gedichte und Dramen über das Unglück, das Deutschland über den Osten gebracht hatte. Er schickte sie an einen ausgewählten Kreis von Wehrmachtsoffizieren, und viele davon waren durchaus bewegt. Seinen engen Mitarbeitern gegenüber hielt er daran fest: Wir können die Richtlinien nicht ändern. Aber im Interesse größerer Sicherheit für unsere Truppen im Felde können wir einen
neuen Faktor einführen, der Berlin vielleicht dazu bewegt, diese Richtlinien zu ändern. – Und einer dritten Gruppe gegenüber sprach er noch eine dritte Sprache. Dem Krieg war ein stetiger Strom von Grundnahrungsmitteln, Waren und sogar Luxusgütern aus den besetzten Gebieten ins Altreich zu verdanken, wo sie (was nur recht und billig erschien) weit über dem Preis verkauft wurden, den sie gekostet hatten, nämlich nichts. Über Strik-Strikfeldt kam man an gewisse Quellen. Er musste nur irgendeinem Fabrikanten, Generalsneffen oder einer gelangweilten Schauspielerin den Kontakt herstellen, und seine finanzielle Unabhängigkeit war gesichert. Als er also zum Parteigänger Wlassows wurde, setzte er sich mit ein paar sorgfältig ausgewählten Personen in Verbindung und sagte, wobei er sich höflichkeitshalber ihrem Sprachgebrauch anpasste: Meine Herren, die Sache ist die. Da das slawisch-asiatische Wesen nur das Absolute kennt, ist Ungehorsam ihm völlig fremd.
26 Sie werden unsere Befehle blind befolgen, verstehen Sie das denn nicht? Wir werden das Unmögliche von Wlassow verlangen, und es wird keine Klagen geben …
    Erlauben Sie uns die Frage, wie wir uns denn in ein so schmähliches Bündnis fügen sollen. Das sind Slawen!
    Eine Lappalie! Denken Sie an den Blutzoll, den Stalin wird entrichten müssen! Machen Sie sich darum keine Sorgen. Und hinterher können wir …
    Er tat sein Bestes, wirklich. Er setzte seine Brille auf und machte sich an manch eine Denkschrift. Die Russische Nationale Volksarmee umfasste auf dem Papier schon siebentausend Freiwillige. Aber General Keitel, der Hitler direkt unterstellt war, hatte bereits jede Art von »Wlassow-Aktion« ausgeschlossen.
    Was Wlassow anging, der legte mit dem ausgezeichneten Kartenspieler Zykow Patiencen. Er drehte sich noch eine Zigarette aus der deutschen Zeitung von letzter Woche. Er las wieder Guderian: Diese Männer können sich von der Erinnerung an den Stellungskrieg nicht freimachen. Wie könnte man die Fehler der deutschen Führung in Stalingrad besser zusammenfassen? Er fragte sich, warum man Guderian dort nicht zu Rate gezogen hatte. (Er wusste nicht, dass Guderian seines Kommandos schon lange unehrenhaft enthoben worden war, weil er in der Schlacht um Moskau die Verkürzung der Verteidigungslinien angestrebt hatte.) Er bat um die Memoiren Napoleons, aber man be
deutete ihm, diese Art Bücher werde für nicht besonders erbaulich erachtet.