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Flasche Schnaps stand hochkant, inzwischen von dem vielen Hautfett grün angelaufen, eine gewisse Patronenhülse, Geco 7,65 mm. (Nennen wir sie eine Verteidigungsstellung.) Aber Wlassow noch größeres Wissen zu unterstellen (und es mag sehr wohl sein, dass es ohne Wissen keine Verantwortung gibt), wäre so simplistisch und altmodisch wie Stalins Kordonstrategie in der Verteidigung. In seinen Nachkriegsmemoiren beharrt Strik-Strikfeldt darauf, er habe erst als Kriegsgefangener, als ein amerikanischer Sergeant ihm mit Fotos aus Dachau zusetzte, erfahren, dass es in deutschen Konzentrationslagern zu so bestialischen Dingen gekommen war wie in keinem anderen Lager der W elt. Der Sergeant habe sich, wie er indigniert schreibt, geweigert, seinen Unwissenheitsbekundungen Glauben zu schenken. Aber dann wiederum glaube schließlich die ganze Welt noch immer nicht, dass es diesen Verbrechern gelingen konnte, ihre Verbrechen vor einem großen Teil des deutschen Volkes zu verstecken. Die westliche Welt weigerte sich, es zu glauben – so wie wir Deutsche und Russen damals nicht an den Verrat der Freiheit durch das freie Amerika glauben konnten.
30 Da haben Sie es, und das von einer Gestalt, die immer so offen sprach, wie der Diensteid es erlaubte.
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Wlassows Redlichkeit also, oder, wenn Sie so wollen, seine Frau, hatte vor ihm hinter einer Wand aus Stahl Deckung genommen. Durch das kleine kugelsichere Fenster konnte er sie lieb und barmherzig lächeln sehen. Sie war bereit, mit ihm zu sprechen. Sie würde tun, was sie konnte, um ihm zu helfen. Aber sie würde ihn nie wieder in die Arme nehmen – sie, die so schwach gewesen war, die sich mit solchem Schluchzen an ihn geklammert hatte, um ihre gemeinsame Zeit in jenem dunklen, freundlichen Raum zu verlängern, und sei es um wenige Augenblicke. Liebevoll hatte er sie gestreichelt und sich gefragt, wie rasch er aufstehen und sich die Stiefel anziehen könnte, ohne sie zu verletzen. Wie lächerlich, sich einzubilden, dass er sie nicht verletzen könnte! Für immer mit ihm zusammen sein war alles, was sie wollte. Aber er
war sehr beschäftigt. Sagen wir zum Beispiel, es herrschte Krieg. Oder sagen wir, er wäre, wie so viele von uns, »schöpferisch tätig« oder »verheiratet«, »eingezogen«, »politisch engagiert«, »ungebunden«, »beschäftigt«, »abgelenkt« oder anderweitig unabkömmlich und kompromittiert. Aus dem einen oder anderen Grund hatte er diesen Krieg zu seinem Krieg gemacht. Sie flehte ihn an, nicht zu gehen, und möglicherweise musste er sogar gehen (sagen wir, ein gewisser Adolf Hitler wäre ins Land eingefallen), aber nein, sagen wir – sagen wir ein, zwei Zeilen lang nichts, außer dass wir den Zweiten Weltkrieg nie würden verharmlosen wollen, indem wir ihn durch die sternförmige Keksteigspritze dieser oder jener Allegorie quetschen – aber Redlichkeit ist Liebe, und die Liebe zweier Wesen und ihre Treue mag für beide den Verrat aneinander umfassen. (Hätte der Schmerz in ihrem Blick mich doch nur umgebracht!) Er musste fort. Jedes Mal ging es so, bis er es vorhersah und damit umzugehen lernte; jedes Mal ging es so; vielleicht schmeichelte es ihm sogar, als er sich erst einmal an das gewöhnt hatte, was ihm ursprünglich Schrecken und Schuldgefühle eingejagt hatte; jedes Mal ging es so mit dieser wahrhaftigen und klugen Frau, die ihn liebte, dieser Allegorie, wollte ich sagen, dieser mythischen Göttin der moralischen Rechtschaffenheit, nein, ich meine jemanden, der nicht vollkommen war, ihn aber liebte, jemanden, der ein besserer Mensch war als er, jemanden, der ihm sagte: Kannst du wirklich so leben, Andrej? Er musste von ihr gehen, was er schrecklich fand, aber er versprach, gleich wieder da zu sein. Es ist allgemein bekannt, erklärt die Große Sowjetische Enzyklopädie, dass die Struktur des Gefühlslebens sich von einer historischen Epoche zur nächsten verändert. Damit verändert sich auch das Gefühl der Liebe, da es von Klassenbeziehungen bestimmt wird, von Veränderungen der Persönlichkeit und der Werteorientierung.
31 Veränderungen der Werteorientierung, das war es! Ihre Augen, ihre großen braunen Augen, die so oft vom Weinen geschwollen waren, feuerten Vorwürfe auf ihn ab, manchmal ängstlich, oft zornig; manchmal war sie nicht ganz gerecht, aber sie war seine Redlichkeit. Sie warnte ihn: Ich weiß nicht, wie lange ich so leben kann, und dann: Ich glaube, so kann ich nicht leben, denn er kämpfte zum Beispiel auf der Seite
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