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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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alles anfing, waren wir, wenn mir der Ausdruck erlaubt ist, bis zur Vollkommenheit mit jenen königlichen Kriegsvögeln gesegnet, die uns inspirierten und beschützten zugleich und sich manchmal als geflügelte Gottheiten auf Säulen verkleideten – ich denke an die vergoldete Viktoria, die noch immer auf dem triumphalen Phallus der Siegessäule ihre Schwingen breitet –, die manchmal unsere Toten beschützten wie zum Beispiel der Malaienadler, der in Gold auf dem alten Sargtuch der Anna Elisabeth Louise hockt, der Tochter des Markgrafen.
    In den Hitlerjahren glaubten wir noch so sehr an Bücher, dass wir sie verbrannten. Stellen Sie sich also vor, wie viel Leben unser Glaube den steinernen Abbildern von Adlern schenken konnte, damals in der Kaiserzeit, als Glauben wirklich noch etwas bedeutete! Das Brandenburger Tor war noch nicht erdbraun verwittert. Keiner der Menschen auf den alten Fotografien war tot – kein einziger! Berlins blassgrüne Weiden beugten sich über die Wasser, wollten sich mit dem eigenen Spiegelbild vermählen und so den Kreislauf der Ewigkeit vollenden; manch einer gelang es. Auf den Brücken und Säulen kreischten die Adler. Neue Feuchtigkeitsatome stiegen auf, Adler zu werden.
    3
    Da kam unser Kaiser, treu und munter! Härter als ein Bismarck-Standbild in einer Gruft; die Seele ein Sarkophag aus vergoldeten Drachenechsen und Fratzen mit aufgerissenen Mäulern, für alle Ewigkeit in Bronze gegossen. Er kam in Uniform, mit seinem Eisernen Kreuz
und der dunklen Schärpe, trat aus dem Tor einer Gruft, zwischen Säulen, gekrönt von einem Paar Adlerengel. Er hatte Zwiesprache gehalten mit dem weißen Grab-Standbild Kaiser Friedrichs III ., der vergoldeten Totenbahre Friedrichs I . Er hatte das Ohr an dem Marmor gelegt und eine Stimme ächzen hören: Deutschland.
    Wollen Sie mehr wissen? Unter jener Bahre war der Marmor schlau aufgebohrt worden. Da wurde es geheim; noch weiter unten wurde es streng geheim. Das war dort, wo der Stein schwitzte und die Tunnel sich nicht mehr gabelten und es nur noch einen Weg gab. Der tiefe Durchgang endete in einer Nische, in deren Mauern für alle Ewigkeit (will sagen: bis 1945) ein Medaillon gesetzt worden war. Wessen Antlitz zeigte es? Welches hätte es schon sein können als das des einen, der den Friedenskuss des Papstes errang, selbst als sich ganz Europa gegen uns stemmte, des einen, der unsere ersten eisernen Tentakel in den slawischen Osten ausstreckte, des einen, der den Dritten Kreuzzug in Gang setzte? O ja, es war Barbarossas rundes, grausam vogelartiges Gesicht unter der plumpen Krone; seine Augen traten hervor; er hielt blumengeschmückte Speerspitzen umklammert; aus seiner schweren, runden Münzscheibe starrte er uns alle an. Und so bemühte sich der Kaiser zu ihm hinunter. Er kniete nieder und drückte das Ohr an Barbarossas Gesicht, so wie wir es mit Telefonen tun. Und Barbarossa seufzte mit einer Stimme weder rau noch sanft: Deutschland.
    Der Kaiser erhob sich. Deutschland hatte er nun auf den Lippen. Deutschland würde er sagen.
    In Erwartung seiner Worte hielten wir Männer aus dem Wirtshaus die Hüte bereit, sie in die Luft zu schleudern. Wir hatten unsere martialisch aussehenden Mütter, Frauen und Kinder dabei, alle leeren Blickes, ruhig und stark, die Kinder von der Mütter Hand beschützt, die Mütter vom vergoldeten Antlitz Friedrichs I . bewacht, das wiederum von schauerlichen, bedrohlichen Adlern gestützt wurde.
    Und Kaiser hub zu sprechen an. Er verkrampfte die Hand im weißen Handschuh und sagte, dass wir als tapferes und ehrliches Volk zu unserem Österreich gegebenen Versprechen stehen und die Serben strafen müssten; dass dies Krieg gegen Frankreich und Engelland bedeute; dass man, weil Russland sich weigere, sich von Serbien loszusagen, Russland anständigerweise auch den Krieg erklären müsse.
    Dann rief der Kaiser: Deutschland! , und noch bevor wir auch nur
unsere Hüte schwenken konnten, erwachten all die Medusengesichter, die seit der Erschaffung Berlins, der Erschaffung der Welt also, somnolent auf steinernen Schilden geprangt hatten. Sie wollten Kriegsspiel und Abenteuer. Bald würden unsere weiß gewandeten Mädchen am Bahnhof den Zügen voller Soldaten nachwinken.
    Auf der Schlossbrücke hielt eine geflügelte Göttin einen sterbenden nackten Krieger über einen Adler im Kampf mit einer Schlage. Ihr Fleisch war steinern, aber jetzt wand sich die Schlange, der Krieger ächzte, die Göttin lachte, und der Adler

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