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war sie glücklich. Und dann, voller Wut auf sich selbst, weil sie glücklich gewesen war, gedachte sie des ersten Sieges in Peters Krieg, man schrieb den 11.8.14, als wir Elsaß-Lothringen heim ins Reich holten: Selbst die Sozialdemokraten waren vom 11.8.14 wie hypnotisiert gewesen; wir ließen Rosen auf unsere Soldaten herabregnen, als sie durch das Brandenburger Tor marschierten, und sogar die Familie von Dr. Karl Kollwitz hängte die Fahne des Kaiserreichs vom Balkon; das hatte sie im Leben noch nie getan, und es sollte auch nie wieder vorkommen.
6 Wer feierte nun noch den 11.8.14? Elsaß-Lothringen war lange wieder in französischer Hand, und unsere Soldaten, die es erobert hatten, hungerten oder waren verstümmelt oder lagen in einer dicht gedrängten Reihe von Leichen in einer Erdfurche. Vor einem Augenblick noch hatte Scheidemanns Republik sie froh gemacht, und wozu? Auf der anderen Straßenseite schüttelte ein verrücktes kleines Männlein mit einem Schnurrbart vor Raserei die Faust und stampfte herum wie Rumpelstilzchen, während neben ihr ein Haufen Arbeiter die Internationale sang.
Tatsache blieb, dass sie Freudentränen vergossen hatte, als im vergangenen Jahr die Nachricht von der russischen Oktoberrevolution gekommen war. Sie schämte sich ihrer Tränen nicht und würde es nie tun.
Und nun eine Republik! Das musste etwas Feines sein …
Sie lief nach Hause, um Karl zu berichten, dass wir eine Republik bekommen hatten. Er hob sie vor Freude in die Luft. Dann fiel der Strom aus.
Die Eisenbahnarbeiter hatten wieder zugeschlagen; die Brücken wurden von Truppen bewacht, jeder Soldat mit seiner Handgranate. Da kam die Polizei, mit hohlem Pferdegetrappel; eine Reihe Grüner Minnas stand bereit, die Gefangenen fortzuschaffen. Und die Spartakisten wurden geschlagen; es war die alte Geschichte; die Menschen sangen Deutschland, Deutschland über alles.
Das hatten sie gesungen, als Peter und Hans mit ihren Regimentern abmarschiert waren. Sie konnte sich noch an die Fahne erinnern, die Peter zum Balkon herunter gehängt hatte,
7 die Lieder, die vom Turm erklungen waren, und dann Deutschland, Deutschland über alles. Wie jung sie alle gewesen waren! Und noch früher, als er klein war, rief Peter den Zeppelinen immer sein Hurra zu.
Sie fragte Hans, ob er sich erinnern könne, und er nickte stumm. Er hatte seine eigene Wohnung im vierten Stock.
Sie hörte Schüsse auf der Straße; Karl war in der Stadt; wo Hans war, wusste sie nicht.
Der Tag, an dem sie zum ersten Mal im Leben ihre Stimme abgab, hätte ein Freudentag sein sollen, aber am Vortag ertappte sie sich dabei, wie sie in ihr Tagebuch schrieb: Niederträchtiger empörender Mord an Liebknecht und Luxemburg.
8 In ihrer Republik war nichts mehr wie zuvor, so wie in ihrem Herzen, als sie die Nachricht von Peter erhalten hatte. Die ganzen Jahre hindurch hatte sie über Karls Sprechzimmer gewohnt und manchmal durch den Fußboden das Stöhnen seiner Patienten gehört, und nun spürte sie, wie sich ihr das Leiden anderer noch schwerer auf die Seele legte; als Künstlerin, als Linke, als Deutsche und als Mensch, vor allem als Peters Mutter konnte sie die Gefühle nicht unterdrücken, selbst wenn sie gewollt hätte. Und so stellte sie sich die letzten Augenblicke der beiden Märtyrer nicht nur vor, sie erlebte sie. (Karl hatte genauso geweint, als er davon hörte.) Neun Tage darauf wurde Liebknecht begraben, neben achtunddreißig anderen. Für Rosa Luxemburg ein leerer Sarg neben Liebknecht.
9 Sie hatten Rosa in den Landwehrkanal geworfen.
Die Ostergeschichte von der leeren Gruft ließ sie nicht los. Wenn wir den Tod nur hinter uns lassen könnten! Ach, all die Träume, die sie hat
te! Sie schrieb sie in ihr Tagebuch; sie erzählte sie Karl und ihrer Schwester Lise. Sie versuchte, Hans nicht damit zu quälen; das wäre nicht fair gewesen. Das belegte Grab war schlimmer, viel schlimmer; andererseits, wie oft im Leben hatte sie den Grabstein weggerollt gesehen, den Knochenmann seiner Beute beraubt? Das Beste, worauf man hoffen konnte, war Scheidemanns Republik. War ein leeres Grabmal unter diesen Umständen nicht das Schlimmste? Rosa Luxemburgs Sarg war nicht deshalb leer, weil sie wiederauferstanden, sondern weil sie verschwunden war. So hielten Attentäter es heutzutage, wenn sie …
Sie schnitzte die Trauernden hell auf dunkel über Liebknechts schneeweißer Totenbahre, ihre Stichelzüge in jedem der Holzstock-Gesichter erinnerten an Muskelstränge
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