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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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vorgegangen, hätte er begriffen, dass diese seine Kirche ihren eigenen Untergang – und den seinen – beschleunigte, indem er die Ehe dieser beiden Gefährten besiegelte?
    [ 3 ]  Auch Trotzki sah sie nach seiner Flucht aus Sibirien nach England im Jahr 1902 in getrennten Räumlichkeiten arbeiten. »Nadeschda Konstantinowna Krupskaja … bildete den Mittelpunkt der gesamten Organisationsarbeit«, schreibt er in seinen Memoiren. »In ihrem Zimmer konnte man fast stets den Geruch von angesengtem Papier wahrnehmen, vom Anwärmen der konspirativen Korrespondenz.«
    [ 4 ]  Dem blinden Glauben, möchte man fast sagen. In Sibirien wurde sie für drei Jahre auf mysteriöse Weise buchstäblich blind, aber eingeschrieben in ihre Blindheit war das geheime Alphabet ihrer guten Sache. Unter dem Einfluss der Terroristin Spiridowna schwor sie, geduldig zu sein und eines Tages die Gerechtigkeit zum Schuss kommen zu lassen. Und da, wie durch Zauberhand, zeigte die Welt sich ihr wieder.
    [ 5 ]  Möglicherweise hatte Fanny Kaplan, wie Exegeten zu sagen pflegen, »besser getan als gedacht«, denn die Kugel, die Wolodja im Hals steckengeblieben war, entpuppte sich als Zeitbombe. Fast drei Jahre später beschlossen die Ärzte endlich, sie zu entfernen, und obwohl die Operation erfolgreich war, erlitt er kaum zwei Tage darauf den ersten der Schlaganfälle, die ihn dahinraffen sollten.
    [ 6 ]  Hiob 3.25
    [ 7 ]  Sprüche 16.33
    [ 8 ]  wörtlich: SCHECHINA , Jehovas weibliche Seite
    [ 9 ]  In seiner trockenen und verlässlichen Darstellung Bride of the Revolution geht R. H. McNeal so weit zu schreiben, dass die Krupskaja sehr wahrscheinlich bis an ihr Lebensende den tröstlichen Glauben hegte, Fanny Kaplan sei am Leben und im Gefängnis.
    [ 10 ]  Auf den letzten Aufnahmen, bevor sie Witwe wurde, findet man bereits einen säuerlichen, abwesenden Zug in ihrem breiten Gesicht, selbst wenn alle anderen lächeln.

Mobilmachung
    Ich habe häufig bei mir bemerkt, daß mein Wille schon entschieden hatte, bevor mein Denken beendet war.
    – Bismarck (ca. 1878)
1
    1
    In der Kaiserzeit hingen Eiserne Kreuze am Brandenburger Tor, und auf Paraden zogen Schimmel vorbei und preußische Offiziere, deren enorme Messingknöpfe grimmig glänzten. (Das machte den Russen zunächst nichts aus; der Zar und der Kaiser waren Vettern.) Nach unseren aufsehenerregenden Abenteuern in Frankreich hatten wir die menschliche Angst vor dem Tod fast schon überwunden, wie auch (in manch heißen Nächten) jede Hemmung, miteinander vom Schicksal zu sprechen. Im Wirtshaus sprang ein Mann auf und schrie, dies werde das Jahr, in dem unser Jahrhundert endlich beginne, mit vierzehn Jahren Verspätung; aber diese vierzehn verlorenen Jahre sollten uns nicht kümmern, denn es lägen ja noch tausend vor uns! Und niemand lachte. Bald waren wir alle auf der Straße. Der Julihauch der Linden, das Glitzern der Flüsse, die Versprechungen des Kaisers und die duftende Feuchte, die zwischen den Brüsten der Frauen aufstieg, mischten sich zu einer übersättigten Lösung, deren Moleküle ausschwärmten, sich in die Linden setzten, die Flügel breiteten und sich dann, als sie es jenseits der Sättigungsgrenze allein nicht mehr aushielten, wieder den eben auskristallisierten Parolen des Kaisers zugesellten.
    Eine Generation zuvor hatte der Eiserne Kanzler angemerkt: Ich habe das Wort immer im Munde derjenigen Politiker gefunden, die von anderen Mächten etwas verlangten, was sie im eigenen Namen nicht zu fordern wagten.
2 Und so trennte sich der Kaiser, ein Jahrhundert vollkommener Aufrichtigkeit einläutend, vom Wort Europa. Er sagte Deutschland. Sofort waren die Berliner Kaufhäuser so luftig und fensterreich wie Gewächshäuser. Die Uhren, die sie krönten, öffneten die vergoldeten Zeigerarme, die Zukunft eines nie endenden Sommers zu empfangen.
    Der Kaiser rief: Deutschland! An den Mauern des Zeughauses er
wachten steinerne Helme zum Leben, die zweihundert Jahre lang gehorsam steinerne Kummete überschattet hatten. In jedem behelmten Dunkel wollten Tröpfchen erregten Nasses Adler werden.
    2
    Die geflügelten Statuetten auf den Brücken Berlins sind inzwischen meist davongeflogen, denn gewisse Dinge sind falsch gelaufen in Europa, das zu Deutschland hatte werden sollen; wahrlich, das Falsche reifte zu Bomben heran, und so mussten unsere Engel fliehen oder in Trümmer gehen. Aber selbst heute (ich schreibe im Jahr 2002) ist Berlin noch die Stadt der Adler; und im Jahr 1914, als

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