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anschnitt, vergoss die Krupskaja, wie überliefert wird, viele Tränen. [ 9 ]
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Hier, vielleicht, sollte die Parabel enden, denn in ihren letzten Jahren pflegte die Krupskaja kaum Schwesternschaft mit einer der beiden Fanny Kaplans. Sie predigte, hielt Vorträge, reiste, ließ Schulen er
richten, allzeit, ohne es jemals zugeben zu können, im Bann des alten Mottos der Narodniki: Geh hin zum Volk. – Nun, so glich sie den Attentätern ihres Mannes am Ende doch! Wie also könnten wir hier schließen? – Sie verfasste nüchterne Aufsätze über Pädagogik. (Die Krupskaja liebte Kinder und hätte so gerne eigene zur Welt gebracht. Aber Wolodja lag inzwischen einbalsamiert in jenem Mausoleum, gegen das sie sich ausgesprochen hatte. [ 10 ] ) Immer wieder tauchte in ihren Schriften die eine Redewendung auf: Die Aufgaben, die vor uns liegen … In den Jahren, als ihre Partei Millionen von Ukrainern ermordete, erzählte ihr ein Genosse, dessen Name nicht überliefert ist, die Geschichte eines armen, kleinen Jungen, der gerne Blumen zeichnete, aber von Geburt an von der Hüfte abwärts gelähmt war, so dass er drinnen bleiben musste und kaum je echte Pflanzen sah; die Krupskaja weinte wie üblich; sie wollte etwas tun. Und welches Recht habe ich, ihr Weinen schlechtzumachen? Sprachen ihre Güte und ihr Urteilsvermögen nicht gegen all ihre Feinde? – Kabbalistisch betrachtet, besaß sie nun eine Neigung zum Buchstaben Jod , der an eine verformte, aus einer Leiche geborgene Kugel gemahnt und vor allem Praxis bedeutet. Kurz, sie ging den vorgezeichneten Weg und blieb der Höchsten Erfahrung würdig. Häftlinge erzählten ihr: Ich werde gut behandelt … – Schon vor Wolodjas Tod gab sie Direktiven aus, nach denen Bibliotheken unerwünschte Bücher zu unterdrücken hatten, darunter die Ekstasen der Tolstojaner mit ihrer schädlichen Oberflächlichkeit. Schieben Sie Wolodja die Schuld dafür zu, wenn Sie wollen. Seinen Anweisungen folgend hatte sie vor langer Zeit mit den Narodniki gebrochen, deren Drucker einst im Untergrund seine in unsichtbarer Tinte geschriebenen Gefängnisaufsätze gesetzt hatten. War also Wolodja der Schlüssel zu ihrem Gehorsam gewesen? Oder war es einfach ihr Mangel an intellektuellem Selbstbewusstsein, der sie zeit ihres Lebens in der Überzeugung hielt, dass sie noch immer zu wenig wusste, um ihre Opfer selbständig zu bringen?
Als im Jahr 1928 die neue Welle der »Repressionen« losbrach, erhielt sie viele Briefe von den Bauern, die sie verehrten und sie baten, ihre Fa
milien vor Entkulakisierung, Vertreibung und Haft zu bewahren. Es ließen sich unmöglich alle beantworten. Sie sagte sich: Wie ich diese Worte persönlich verstehe, ist irrelevant. Die Revolution muss gerettet werden. – Dahin war die Verzückung. Sie hoffte nicht länger darauf, sich ins Buch des Lebens einzuschreiben oder auch nur Lenins Lektorin zu sein; alles was ihr noch blieb war, laut vorzulesen, was auch immer man ihr vorlegte. Im Jahr 1936 schrieb sie zur Verteidigung der Schauprozesse Stalins, viele ihrer eigenen früheren Kampfgefährten verdienten es, erschossen zu werden wie tollwütige Hunde (einer der geschraubten Gemeinplätze jener Zeit). Da war sie eine traurige, rundgesichtige Babuschka geworden, eine gute Kommunistka mit verlangsamtem Blick auf die Welt. Manchmal flüsterte man ihr ein, Fanny Kaplan lebe noch. Gutgläubig verschlang sie solche Gerüchte, die man ihr darbot wie Opfergaben.
In ihrem Schicksal der gemordeten Mörderin überlegen, entkam sie sogar den Schauprozessen. Dem Gerücht, dass Stalin sie vergiftet habe, muss man keinen Glauben schenken. Sie starb im Jahr 1939 an Arterienverkalkung, und für einen Menschen, dem man mit der Zeit alle Lebenskraft und Spontanität abgewürgt hatte, scheint mir das seltsam passend. Stalin tat sich unter jenen hervor, die ihre Urne zu der Nische in der Kremlmauer trugen, die auf sie wartete.
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[ 2 ] Mit Leichtigkeit enthüllt die Exegese weitere Absurditäten: Der in Purpur gewandete Priester, so steht geschrieben, war so entnervt wie seine Opfer, weil deren Ehebund ihn hinderte, das zweite Zimmer in Lenins Haus zu mieten, das nun die Braut und ihre Mutter beziehen würden. (Wäre sie unverheiratet geblieben, hätte man die Krupskaja an den Ort Ufa verschickt.) Und vielleicht roch er die Gottlosigkeit der verurteilten Eheleute. Was wird er sich bei der Verlegenheit der Krupskaja gedacht haben, bei Lenis sarkastischem Grinsen? Wie wäre er
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