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wagte sie nicht. Sie räusperte sich und sagte stockend: Ich kann mich noch an meine Gefängniszeit erinnern, als ich so leidenschaftlich an die Notwendigkeit des bewaffneten Kampfes glaubte. Und ich … ich denke, auch Sie werden ihre Leidenschaften haben.
Das Gesicht der Frau schwoll an vor dumpfer Ekstase, und sie fiel auf dem Steinboden der Zelle vor der Krupskaja auf die Knie, warf den Kopf zurück und bot ihr die Kehle dar, so dass ihre Gestalt an den Buchstaben Beth erinnerte, der für Weisheit und Wahnsinn zugleich steht.
Aber Sie sind verrückt! Sie brauchen einen Arzt. Ich sage Iljitsch …
Machen Sie sich keine Mühe, Nadeschda Konstantinowna …
Da begann die Krupskaja zu zittern, und sie sagte: Sie sind nicht Fanny Kaplan, oder?
Wenn ich nicht die bin, die ich zu sein behaupte, müssen Sie Ihre eigenen Schlüsse ziehen …
Ist sie tot?
Die Frau stand auf und sagte: Mit anderen Worten, Sie möchten wissen, ob ich die Attentäterin selbst bin oder die Erscheinung einer Attentäterin.
Wer sind Sie?
Ich bin Ihre Offenbarung.
Dann fiel die Frau (die, anders als die Krupskaja und Fanny Kaplan, ihren eigenen Untergang hinauszögern wollte) erneut auf die Knie und begann, die folgenden Worte zu murmeln: Suria, Prinz der Gegenwart, mit dem Kopf zwischen den Knien habe ich gefastet; nun beschwöre ich Dich einhundertundzwölf Mal mit dem Namen Gottes. Ich beschwöre Dich mit dem Namen NADESCHDA KONSTANTINOWNA KRUPSKAJA HA-SCHEM ELOHEI JISRA'EL .
Blasser und blasser wurde sie im Dunkel, bis ihr Fleisch wie eine weiße Flamme war, einhundertundelf Mal wiederholte sie den geheimen Namen (jedes Mal in einem langen Atemzug), nickte bei jeder Silbe mit dem Kopf, zählte an den Fingern ihrer ekstatisch ausgestreckten Hände mit.
Gelähmt saß die Krupskaja da. Hinterher konnte sie sich ihrer Empfindungen kaum erinnern. Es war, als wäre sie überhaupt nicht dort gewesen, oder nur auf unwirkliche Weise, wie ein Fähnlein Rauch … Und dann flüsterte die Frau LI'ARSIJ JEHOL MEHS-AN AJAKSPURK ANVONITNATSNOK ADSCHEDAN , fiel zitternd und mit Schaum vor dem Mund zu Boden, und in ihren Augen war eine Dunkelheit wie das Dunkel in den Nasenlöchern der Krupskaja. Im gleichen Augenblick färbten sich die auf den Mauern sich windenden hebräischen Lettern rot wie Feuer, erhoben sich in die Luft und verdichteten sich über dem Gesicht der Frau zu einem kreisförmigen Schwarm, so dass ihre Züge verdeckt waren, gerade so wie Fanny Kaplans Hinrichtung vom mysteriösen Dröhnen eines Automotors verschleiert worden war (Malkow hatte befürchtet, Schaulustige könnten sonst die Schreie hören). Dann verschwanden die Lettern im Mund der Frau. Der Krupskaja fehlten die Worte. Die Frau begann stärker und stärker zu leuchten, bis das Licht, das von ihr ausging, so weiß und rein war wie das Papier der Torah.
Sie stand auf und näherte sich der Krupskaja, die sie, von einer geheimnisvollen Regung getrieben, auf den Mund küsste, so dass die beiden endlich voneinander tranken.
Dann, in einer Stimme, so zart wie Spitze in den russischen Schaufenstern, bevor diese von der Revolution leergeräumt worden waren, sagte die Frau: Ich habe dich erschaut, ich habe dich angebetet und mit der Kraft der Rechtgläubigkeit habe ich deine Glorie wiederher
gestellt. Du stehst ohne Schuld. Ich aber, da ich dich erschaut habe, muss gewisslich sterben.
Wer bist du?, sagte die Krupskaja und nahm die Hand der Frau.
Und wenn ich es dir sage, wird es dich dann davonfegen?
Wer bist du?
Ich bin du. Ich bin du geworden. Ich habe mich dir ganz gegeben. Und was wirst du nun tun? Du bist so unschuldig, so vollkommen, du kannst alles tun.
Wer bist du?
Ich bin unergründlich, wisperte die Frau. Ich bin nichts.
12
Sie rauschte an den aufgesetzten Bajonetten der feixend höflichen Tschekisten vor den Kremlmauern vorüber und stieg die drei langen, steilen Treppen hinauf, die zitternden Hände ineinander vergraben. Die Frau, die sie angebetet hatte, hatte aus ihrem Mund den Kuss der Erleuchtung getrunken, wer aber konnte die Göttin selbst erleuchten? Die Krupskaja fühlte sich wie in einem Feuerkreis gefangen.
Gestern haben wir davon gesprochen, sie zu legalisieren; heute verhaften wir sie!, hörte sie Wolodja mit dem ihm eigenen munteren Glucksen sagen. So macht man der Konterrevolution den Garaus …
Nicht lange darauf machte ihr die Genossin Angelica Balabanoff ihre Aufwartung. Als Letztere das Thema der Hinrichtung der Fanny Kaplan
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