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Uraufführung der 11. Sinfonie ihres Vaters beizuwohnen, die Bücherstände an der Newa durchstöberte, ging die Mine hoch: Galina, die eigentlich ein Geschenk für den Namenstag ihres Bruders suchte, öffnete zufällig den Band – ein Unfall. Aber ist nicht jeder Unfall ein Zufall? Ich will nicht übertreiben; ich werde nicht behaupten, die junge Frau habe geschrien; sie hatte schließlich den Großen Vaterländischen Krieg durchlebt, auch wenn sie sich nicht an jede Einzelheit erinnern konnte; sie hatte genug echte Totenschädel gesehen! Und doch, die Kraft des Bildes war so groß, dass sie einen Alptraum hatte, und am Morgen entdeckte ihr berühmter Vater, gerade selbst von Ängsten geplagt, einen seltsamen Jammer in ihrem Gesicht, der ihn traf wie ein Schlag in den Magen; dieser Eindruck ging später, angemessen in den Akkord D–D–Sch
17 übersetzt, sowohl in seine 15. Sinfonie als auch in das gottlose Opus 110 ein.
Währenddessen promenierte der Mann mit Zylinder traurig unter Käthe Kollwitzens Fenster auf und ab.
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Im Jahr 1926 machte ihr A. Lunatscharski, damals unser Volkskommissar für Kultur, das folgende Kompliment: Sie will erreichen, dass beim ersten Blick auf ihr Bild die Schwermut einen am Herzen packt, dass Tränen einem die Stimme ersticken. Sie ist ein großer Agitator.
18 Im gleichen Jahr reiste sie mit Karl nach Roggevelde, um zum ersten Mal Peters Grab zu besuchen.
Im Jahr 1927 stand sie im Kreise der Jury der Preußischen Akademie der Künste, alte Männer in Schwarz mit kurz geschorenen Haaren und Zylindern, die mit beiden Händen das Passepartout eines ihrer Holzschnitte packten; der Mann neben ihr blickte, den Hut vor dem dicken Bauch, respektvoll auf die Kunst herab.
19 Vielleicht bedauerten sie, dass der Kaiser ihnen vor neunundzwanzig Jahren nicht erlaubt hatte, ihr die goldene Medaille zu verleihen. Sie erinnerten sie an Hans und Peter, als sie klein gewesen waren, die beiden Augenpaare, die sie über den verhassten weißen Kragen anstarrten. Der Saal erstrahlte im Licht der Gunst des Himmels. Man verlieh ihr einen Preis.
Nach der Feierlichkeit wollte ein Herr von der Nationalen Front mit ihr über die mystische Rolle der Mutterschaft ins Gespräch kommen, und Professor Moholy-Nagy, frisch aus dem Bauhaus, schalt sie, ihre letzte Komposition, wieder ein schwarz-weißer Holzschnitt einer Frau und eines Kindes, die in den Tod gingen, sei zu düster und zu statisch.
Es handelt sich ja schließlich um eine Darstellung des Todes, sagte sie matt.
Farbe aufzunehmen, Farbe zu erarbeiten, sagte Moholy-Nagy streng, ist für den Menschen eine elementare biologische Notwendigkeit.
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Was meinen Sie damit, biologische Notwendigkeit?
Wir leben in einer farblosen Ära.
Sie sind also traurig, so wie ich.
Sagen Sie das nicht! Gefühle lehne ich strikt ab.
So sanft sie konnte (der Raum war voller Menschen) sagte sie ihm: Wir sind alle wund von den Kriegsjahren her. Was Ihren Fall angeht, vielleicht haben Sie Angst vor Gefühlen, weil …
Professor Moholy-Nagy unterbrach sie schneidend: Das traditionelle Bild ist historisch geworden und vorbei.
21 Sie lächelte ihn an. Dann wandte sie sich langsam ab und nahm weitere Gratulationen von Militaristen und Angehörigen der Elite entgegen, von jenen, die Peter auf dem Gewissen hatten und nicht nur Peter, sondern all die tapferen jungen Männer unter ihren Helmen, die sich mit bleichen Gesichtern durch das Labyrinth der Schützengräben gequält hatten und durch die Hölle gegangen waren, von denen Dutzende auf einen Streich gefallen waren, die jungen Männer, die Haut wie geräuchert, die mit Dolchen durch Tunnel krochen, um einander abzustechen, die tapferen
jungen Männer, die gegen den Stacheldraht anrannten, aufgespießt wurden und dort hingen, bis der Gewehrkugelwind durch sie hindurchpfiff, oder die, wenn sie Glück hatten, mürrisch blickende Kriegsgefangene wurden, in einer Kolonne abgeführt zwischen berittenen Franzosen; dann konnten sie sich auf die kommenden Jahre in der Heimat freuen, verbittert, arm und hasserfüllt, reif für den nächsten Krieg. Als sie es nicht länger ertragen konnte, nahm sie die Straßenbahn in die Weißenburger Straße. Sie ging nach Hause zu ihrem gereizten, überarbeiteten Gatten, dessen Patienten ihr so oft Modell für das Gesicht der Armut gestanden hatten
Draußen stand der Mann mit dem Zylinder. Diesmal ertappte sie ihn im Gespräch mit dem tuberkulösen Kaufmannslehrling, den Hitler in
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