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Verzückung versetzt hatte; Karl sagte, man könne wenig für ihn tun, in sechs Monaten sei er unter der Erde; Käthe hatte den Jungen einmal gefragt, was er gegen die Juden habe, wie er sich für Deutschland denn nur noch mehr Hass und Krieg wünschen könne. Er antwortete: Entschuldigen Sie, Frau Kollwitz, aber ich möchte für etwas stehen. Ich möchte gerne für etwas da sein.
22 – Jetzt trugen sie beide das Hakenkreuz am Ärmel. Sie wirkten aufgekratzter, als Käthe sie je erlebt hatte.
Zuerst fiel sie ihnen überhaupt nicht auf. Dann sahen sie sie. Der Mann mit Zylinder sagte: Na, da haben wir ja wieder Frau Kollwitz.
Und sie merkte, dass auch er die ganzen Jahre über sie beobachtet hatte.
In der Preußischen Akademie hatte sie sich genug gefallen lassen müssen. Sie hatte ihm nichts zu sagen.
Aber der Mann mit Zylinder hatte etwas zu sagen. Er kam zwei Schritte näher, und die glänzenden Augen des graugesichtigen Kaufmannslehrlings ruhten auf ihm, als er sagte: Wissen Sie, was uns unterscheidet, Frau Kollwitz? Wir sind Optimisten.
Das erschütterte sie so sehr, dass ihr die Luft wegblieb, denn es stimmte.
Der sterbende Lehrling fiel ein: Wir haben nie aufgegeben. Bis zum Schluss haben wir an den Sieg geglaubt.
Sie blickte ihnen in die Augen und sagte: Und jetzt glauben Sie immer noch daran?
Ja, Frau Kollwitz; wir bleiben unserem Glauben jedenfalls treu.
Sie eilte nach oben; die Tür zu Karls Sprechzimmer war geschlossen,
und drinnen stöhnte ein Mann. Sie brauchte Karl, sofort, aber es ging nun einmal nicht. Die letzte Treppe erschöpfte sie. Sie schloss die Wohnung auf und ging sofort in Peters Zimmer.
In jener Nacht träumte sie, dass der Mann mit Zylinder zwei Schritte näher kam und noch zwei, bis er sich plötzlich in eine ihrer Zeichnungen verwandelte, von einer Mutter, die ihren Soldatensohn auffing, als er ihr schaurig in die Arme taumelte; es war schon früh am Morgen, und sie lag schluchzend in Karls Armen, als sie aufwachte und ihr klar wurde, dass ihr der Tod nun zum Freund geworden war; es sollte dann einmal ein berühmtes Selbstporträt geben (Werkverzeichnis Nr. 157), auf dem der Tod sie lieb und freundlich fortbittet. (Wie der Schlafwandler lachend zu Oberst Hagen sagte: Finden Sie nicht, es ist etwas Jüdisches daran?) Sie gab ihm den Titel Ruf des Todes. Diese Hand, die sich ausstreckte, als die Zeit gekommen war, und die Schulter der Künstlerin berührte, wem gehörte sie? Keinem Knochenmann, aber auch nicht Peter. Dessen Hand war für sie nun ewig klein und zart, so wie er nun kein erwachsener Mann war, sondern ein schöner, nackter, kleiner Junge.
23 Die Hand in Ruf des Todes war alt und schwer; vielleicht gehörte sie Karl; ihre Berührung war häuslich; sie rief sie zu sich selbst, damit sie, müde und ohne jede Überraschung, ihrem Besitzer folgen und sich zur Ruhe betten konnte. Aber selbst wenn die Hand nicht Peter gehörte, war es doch Peters Bett, auf das sie sich legte.
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Im gleichen Jahr 1927 wollten die Brudervölker der UdSSR die Errungenschaften der Sowjetmacht feiern. Den Kulaken, den bürgerlichen Monopolisten und Trotzki zum Trotz haben wir den demokratischen Sozialismus aufgebaut! Besonders die Verelendung der Massen im Kapitalismus, die unsere liebe Freundin K. Kollwitz in ihren grafischen Arbeiten so kraftvoll dargestellt hat, ist für immer verschwunden , so wie die Prostituierten der Vorkriegszeit am Newski-Prospekt. Außerdem konnten wir diese Heldentat des Humanismus vollbringen, ohne der kapitalistischen Würgeschlange nachzugeben, die uns im Griff hielt. Bis 1927 konnten wir der Welt eine ununterbrochene und unzerstörbare Kette von Siegen vorweisen. Das war das Jahr, als einem Flugzeug aus unserer Serie R-3 der Flug Moskau–Tokio–Moskau gelang. An
der Musikfront war Schostakowitsch noch nicht in Ungnade gefallen. Auf den Gebieten der Fotografie und Metallurgie schlugen wir uns wacker; an der Bildungsfront konnten wir das Analphabetentum fast ausmerzen.
Daher wurde, zur Feier des zehnten Geburtstages unserer Revolution, beschlossen, neunhundertsiebenundvierzig ausländische Delegierte einzuladen; schnell fiel dabei der Name K. Kollwitz [ 11 ] : K. Kollwitz, die so aufrichtiges Mitgefühl mit der Arbeiterklasse gezeigt hatte – eine Gossenkünstlerin hatte der Kaiser sie genannt –, K. Kollwitz, die nie in die Partei eingetreten war und deren Anwesenheit in unserem Land daher die Weitherzigkeit unseres Wohlwollens beweisen würde; K.
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