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erste Tote seines Regiments.
Peter war der Freiwillige. Der andere Sohn, Hans, der, den sie kaum kannte, überlebte natürlich. Hans erkannte hinter dem Krieg das Knochengerüst der Politik. Später wurde er Arzt, wie Karl. Er blieb immer realistisch.
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Karl hatte Peter verboten, in den Krieg zu ziehen, also hatte er es bei der Mutter versucht. Ihr wurde nie ganz klar, wie er sie dazu bekommen hatte, ihre Ängste zu überwinden, aber er schaffte es, und danach beugte sich der Vater, wie immer, der Mutter.
Dann kam das Telegramm:
Ihr Freund Liebermann gab ihr den Rat: Arbeite.
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Nachdem sie von einer perfekten, unerreichbaren Mutter aufgezogen worden war, war es ihr Schicksal – gar ihre Bestimmung –, zu sein wie diese und immerzu eine geheime üppige Mütterlichkeit zu verströmen. Und dann streckte der Tod seinen langen grauen Arm aus einer pechschwarzen Wolke, um sich aus einer reichen Ernte an großäugigen Kindern das ihre herauszupicken. Wie viele Frauen haben wir dahinwelken sehen, weil man sie daran gehindert hatte, alles an Liebe zu geben, was in ihnen war? Die Große Sowjetische Enzyklopädie , die ihr wohlwollende Kritik zuteil werden lässt, erklärt, sie habe den Ersten Weltkrieg durch den Filter ihrer privaten Tragödie erlebt, was ihrer künstlerischen Arbeit einen düsteren Ton und eine Opferhaltung verlieh. Daher ihre irren Figuren, die mit offenen Mündern um die Guillotine tan
zen; daher die überlangen, muskelgefurchten Arme, die sich in Wut und Schmerz gen Himmel recken.
Die längste Zeit des folgenden Jahrzehnts hindurch gestaltete sie Plakate für die Kommunistische Partei Deutschlands. Gleichzeitig arbeitete sie weiter an ihren trauervollen, affengleichen Selbstporträts; sie fertigte den hundertsten Holzschnitt einer schreienden Mutter mit dem toten Kind im Arm, umgeben von anderen Müttern auf dem Zug ans Grab.
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Den Mythos, der Tod ihres Sohnes sei die Inspiration für ihr Werk gewesen, kann man leicht platzen lassen. »Tod, Frau und Kind« stammt aus dem Jahr 1910, als Peter noch vier Jahre zu leben hatte. Formal erinnert das Werk an die Kohleskizze »Abschied« aus dem Jahr 1911: das Gesicht des Kindes, liebreizend, ganz weiß und realistisch, von der Mutter an das eigene größere, grauere Gesicht gepresst, das in seiner Trauer ins Schwarze abzufallen scheint, unten schwarz verschmiert.
Im Jahr 1903, sowohl in ihrer »Pietà« als auch in »Mutter mit totem Kind«, war die Anordnung umgekehrt gewesen, die Mutter hielt den kleinen Leichnam von oben, ihr Kopf lag auf seiner Brust und der Kopf des Kindes hing frei im Raum, die Lippen im weißen Gesicht halb geöffnet. Im gleichen Jahr war eine andere »Mutter mit totem Kind« entstanden, fast wie von Blake mit Bein, Fuß und Zehen im Vordergrund; die Mutter saß im Schneidersitz, ein Knie aufgestellt, den Kopf über das Kind gebeugt, dessen Gestalt, umhüllt von phallischem Gestrichel, mit ihrer verschwamm; ihr Ohr, die in Falten gezogene Stirn und ein eingesunkenes Auge waren zu sehen, aber nur auf die wirre, aufgelöste Weise, wie sie Embryos und unvollendeter Kunst eigen ist; der Kaiser hätte darin keinen Wert erkannt.
Im Jahr 1911 wuchs Peter stark, blieb aber untergewichtig; er las sein Neues Testament auf Griechisch und lief nach draußen, um die Zeppeline zu sehen; seine Mutter vollendete derweil ihre »Mutter am Bett des toten Kindes«, wieder das ach so weiße Gesicht, diesmal fast totenschädelartig, dann das in grobem Kreuzstrich hingeworfene Laken, dann das Gesicht der Mutter, dunkel auf den dunklen Hintergrund gesetzt,
mit einer einzelnen Kerzenflamme, die verloren hinter ihr leuchtet; ihre schweren dunklen Finger langen nach vorn, um die weiße Wange zu streicheln; in ihren tiefen, dunklen Augenhöhlen sieht man die Muskelfasern wie bei einem gründlich sezierten Kadaver. Die bedächtige Liebe und Trauer und die daraufgepropfte, beinahe echsenhafte Rohheit des lebendigen Körpers verbinden sich zu etwas wahrhaft Erschreckendem. Kurz darauf radierte sie eine andere Version der »Mutter mit totem Kind«, diesmal mit dem Titel »Tod und Frau um das Kind ringend« (1911), der Mund des Kindes gähnt schwarz in einem leicht eingedunkelten Gesicht, das der Mutter ist entsprechend heller, so dass die beiden schwarzen Schlitze ihres zusammengekniffenen Mundes und Auges uns anspringen; hier kommt auch der Tod ins Bild, ein weißes Gerippe, dessen runde Augenhöhlen das Paar mit einem Ausdruck zwischen Neugier und
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