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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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Frohlocken betrachten; Fleischfetzen, die vielleicht Rippen verbergen, verbinden ihn mit den beiden Gestalten, die er nun auseinanderzureißen begonnen hat. Mit Variationen wie »Tod und Frau«, einem Bild, auf dem das kleine Kind mit all seinen schwachen Kräften darum kämpft, die Mutter davor zu retten, mit Gewalt vom Tod mitgenommen zu werden, wollen wir uns hier nicht weiter befassen; Sie haben das Prinzip bestimmt schon verstanden.
    Vier Jahre vor dem Weltkrieg und zwei Jahre, bevor der Kaiser die Entfernung ihres Plakats verlangte, das Spielplätze für Mietskasernen forderte (ein trauriges Mädchen steht vor einer Mauer, ein krankes Baby im Arm; hinter ihnen steht auf einem Schild:), sehen wir sie in ihr Tagebuch schreiben: Heut den Beginn gemacht zu der plastischen Gruppe: Frau mit totem Kind.
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    Jahrelang fiel ihr Blick aus dem Fenster auf den gleichen hageren Mann, der unter seinem Zylinder Grimassen schnitt. Seinen Namen erfuhr sie nie, aber sie erkannte seinen Schritt auf dem Kopfsteinpflaster. Eine Zeit lang wurde er von einem blonden kleinen Jungen mit eingesunkenen Augen begleitet, aber der blonde Junge starb an Tuberkulose, und dann erkrankte auch der Mann daran; er gehörte zu Karls Patienten, nur seinen Namen wollte er nicht verraten; er schämte sich sehr, weil er nicht zahlen konnte. Bestimmt kam er deshalb nicht mehr zur
Behandlung. Vielleicht hatte Karl ihn gerettet; Jahr um Jahr lebte er weiter. Käthe, die eben wieder Mutter geworden war, arbeitete noch an ihrem Weber-Zyklus, als sie ihm zum ersten Mal begegnete; sie kratzte noch die dünnen, dunklen Linien der Pein in braunes Papier und erweckte die bleichen Kinder zum Leben, die schwachen Figuren in Schwarz, den Tod. Einmal, es musste ungefähr im Jahr 1895 gewesen sein, lüftete der hagere Mann den Zylinder, um sich am Kopf zu kratzen, und da, genau in diesem Moment, als sein Blick fast den ihren traf, hielt sie ihn fest, skizzierte in drei oder vier Sekunden leidenschaftlichen Kampfes seinen Kopf; ja, sie hatte Besitz von ihm ergriffen; jetzt gehörte er ihr; er litt nicht länger umsonst; er war einer ihrer Weber geworden.
    Im Jahr 1921 zeichnete sie ein Plakat für die Russenhilfe;
14 sie wollte tun, was sie konnte, die Kommunisten im Kampf gegen die schreckliche Hungersnot in ihrem Land zu unterstützen. Aber in die Partei mochte sie nicht eintreten, deren Taktieren lag ihr nicht. Sie zeichnete zwei Paar Hände, respektvoll ausgestreckt, um den Kopf eines Slawen zu stützen, eines Menschen mit dunklem Haar, die Augen vor Auszehrung geschlossen. All die kranken Proletarier mit ihren traurigen Geschichten, die Karl behandelte und die allzu oft lebten und dahinstarben, ohne dass Hilfe sie hätte erreichen können, an sie dachte sie, als sie dieses russische Gesicht schuf. – Nein, nicht an alle. Als der Mann mit Zylinder unter ihrem Fenster vorbeiging, war der Eindruck, den er vermittelte, so dramatisch, dass sie zum Kohlestift griff, aber er hatte zu viel Zorn und nicht genug Schwäche in sich. Frau Beckers Sohn, der dunkelhaarige, der im vergangenen Jahr gestorben war, sie erinnerte sich an seine traurigen Augen, als er starb. Sie arbeitete sie in das slawische Gesicht ein. Sie warf einen prüfenden Blick darauf und sagte sich: Es ist gut, Gott sei Dank. – Karl war ihrer Meinung, wie immer.
    Sie machte es sich in Peters Zimmer bequem und dachte über einen Zyklus ganz geradliniger Plakate zum Thema Lenin nach. Aber als sie zufällig mit Hans über Politik diskutierte, sagte sie: Mich interessieren jetzt andere Probleme, grundlegende menschliche Probleme wie der Tod.
15 Aber dein Holzschnitt von Liebknecht …
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    Ein wenig streng sagte sie ihm: Ich bin nicht die verbitterte alte Kämpferin Käthe Kollwitz.
    In Wahrheit blieb sie so unwandelbar wie die blassgrünen Berliner
Sommergräser und Bäume am Wasser, denn ihr Kummer stand so fest wie die gelblichen Sandsteinhäuser.
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    Im Jahr 1922 setzte sie den Totenschädel-Mond in das Dunkel über gebeugten Kindern, die sich im Einklang mit den Millionen in Ketten gelegten Freiwilligen unseres Jahrhunderts in Krämpfen wanden; der Titel ist »Hunger«, und ich habe gelesen, dass dieses Bild, in einer schlechten Reproduktion aus einer antiquarischen Monografie, jahrzehntelang auf der Lauer lag wie eine Tretmine, mit dem einzigen Zweck, Schostakowitschs Tochter Galina zu erschrecken; eines Tages, als sie, noch unverheiratet und sich vermutlich in Leningrad aufhaltend, um der

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