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Siegfried, unser deutscher Held, der in lateinischen Chroniken, nordischen Epen, deutschen Liedern und Gedichten wieder und wieder stirbt, unbesiegbar von vorn, dann rücklings erstochen. (Goethe war ihr Lieblingsautor, vielleicht weil er nicht glücklich war.) Der Sohn sah seinen Tod nicht kommen, weil er ihm von einer Maschine zuteil wurde; wie hätte er sich da wehren können?
(Die Menschen vergessen, dass Hagen, der Mann, der Siegfried umbrachte, auch Deutscher war. Er hatte seine Gründe. Dieser Krieg war Siegfrieds Krieg. Der nächste Krieg würde der Hagens sein.)
Nach dem ersten Schmerz war die Spanne Einsamkeit, die sie, für Selbstmord zu stark oder zu schwach, noch zu durchmessen hatte, so unermesslich wie der Eintrag über den Krieg in unserem Großen Brockhaus von 1935: siebenundvierzig Seiten, zehn Schaubilder, zwölf vollfarbige Karten, eingefügte Porträtfotos unserer deutschen Helden.
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Wie gesagt, sie wohnte mit Karl an der Weißenburger Straße, in einem Viertel, dessen rot gedeckte, vielstöckige Mietshäuser modrige Hinterhöfe für die arme arbeitende Bevölkerung umschlossen. Zweiundfünfzig Jahre lang wohnte sie dort und schuf Werke wie die Lithografie »Gefallen« (1921), die eine Mutter zeigt, die Hände in äußerstem Schmerz vor das Gesicht geschlagen, die Kinder, fassungslos, furchtsam, erschüttert um sie versammelt, ihre Hände nach ihr ausgestreckt, bettelnd um Trost, den sie gerade jetzt nicht geben kann. Das kleine Mädchen hinter ihr, das eine Puppe zu umklammern scheint, starrt mit derselben Schwarze-Punkte-auf-weißem-Dominostein-Miene zu ihr hinauf wie so viele der toten Kinder. – Dann kamen Witwen, noch mehr Mütter in Trauer; ein Grundmotiv vielleicht. Das war drinnen.
Draußen karrte die Polizei weiter in grünen Minnas die Streikenden davon. Die Arbeiter streikten weiter. Ihnen zu Ehren ritzte sie die Falten, Nähte und Schatten der Hosen von Häftlingen hinter einem Zaun in eine Kupferplatte. Sie fertigte den Druck an, und er weinte für alle Zeit glänzende, bebende Tintentränen. Die Vögel im Tiergarten, das grüne sommerliche Licht im Tiergarten, die besaß sie nicht. Sie besaß Schwärze.
Manchmal kaufte sie sich an den kleinen Zeitungskiosken zwischen den Blumenständen ein wenig Hoffnung; was die Entwicklungen in Russland anging, hielt sie sich auf dem Laufenden. Warum die Hoffnung aufgeben?
Aber der Kapp-Putsch, als es in Berlin ganz finster wurde, und dann die Straßenkämpfe zwischen den Streikenden und den Freikorpsmännern mit dem Hakenkreuz, die Ballerei, das Geschrei, das hörte nicht auf. Man hätte meinen können, dass die Menschen aus den Weltkrieg etwas gelernt hätten. Aber wie hätten sie das tun sollen? Als die Deutschen im Spiegelsaal von Versailles ihre Schwerter zum Sieg erhoben, war sie vier Jahre alt gewesen; das war es, was die Deutschen immer noch wollten. Manchmal war sie so müde; es gab keinen Anfang und kein Ende. Karl war Sozialdemokrat geworden; nach den Mord an Liebknecht und Luxemburg hatte er gesagt, es sei an der Zeit, realistisch zu sein, besonders in Scheidemanns Republik. Käthe hatte nicht dagegengehalten. Sie fühlte sich mehr als Kommunistin denn als Sozialdemokratin und fertigte Lithografien für die Kommunisten an, weil sie aktiver und leidenschaftlicher waren. Nun, Karl war schon immer der »realistische« Typ gewesen. Ein paar Wochen, nachdem sie das Telegramm wegen Peter erhalten hatten, kam Hans in ein Typhus-Genesungsheim. Karl schlug vor, an das Kriegsministerium zu schreiben und zu bitten, der Junge möge nicht an die Front geschickt werden. Als Käthe ihn, angenehm überrascht, dass er so etwas Aussichtsloses überhaupt angehen wollte, fragte, was zum Himmel ihm einfalle, sagte er ihr, gehässig fast, wie sie später fand: Du hast nur Kraft zum Opfern und Loslassen – nicht die geringste zum Halten.
11 – Sein Gesicht war knochiger geworden, seine Haare schütterer, aber sonst war er kaum gealtert. Käthes Haar war inzwischen natürlich schlohweiß.
An den frühen Wintermorgenden, wenn sie die Kämpfe auf der Straße hörte, vermengte sich ihre Trauer um Deutschland irgendwie mit ih
ren immer wiederkehrenden Träumen, in denen Peter noch am Leben war; manchmal waren Hans und er gemeinsam auf dem Schlachtfeld; sie wollte ihm helfen herauszufinden, was er tun musste, um nicht wieder erschossen zu werden.
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Er war am 22.10.14 gefallen, in Flandern, zehn Tage nachdem sein Krieg begonnen hatte. Er war der
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