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Kollwitz, deren leidgefärbte Tableaus proletarischer Märtyrer die Überlegenheit unseres Systems zeigten, weil sie in Deutschland angesiedelt waren – persönlich bewundere ich am meisten ihre Lithografie einer Proletarierin im Profil, deren müde alte Hände einander unsicher umklammern und deren bleiches Antlitz sich unterwürfig im Dunkel beugt (1903); das Haar hat die Künstlerin getüpfelt, nicht gestrichelt, so dass die Arbeiterin an einen kahlgeschorenen Häftling erinnert – K. Kollwitz, bei der die Chancen gut standen, dass sie sterben würde, bevor sie sich gegen uns wenden könnte; sie war sechzig Jahre alt, müde, voller Angst, am Ende zu sein. Im Rückblick sieht man, dass unsere Wette aufgegangen ist; im Jahr 1944, dem vorletzten Jahr ihres Lebens, als der Krieg des Schlafwandlers gegen uns offensichtlich verloren ist, sehen wir sie, wie sie ihren Kindern schreibt und dazu rät, dem kleinen Arne Russisch beizubringen: Bei den vielen Beziehungen, die sich späterhin zwischen den beiden Ländern ergeben werden, hat er durch die Kenntnis der Sprache ein Plus. Also, laßt ihn beizeiten die Sprache lernen.
25 Im selben Monat schrieb sie: Ich erwarte nur von dem Weltsozialismus etwas. (Man muss nicht extra erwähnen, dass sie auch schrieb: Aber die unstillbare Sehnsucht nach dem Tode bleibt. – Ich schließe hier, meine geliebten Kinder. Ich danke euch von ganzem Herzen.)
26 Mit anderen Worten, man konnte sich auf sie verlassen wie auf unser Doppel
decker-Jagdflugzeug Polikarpow-Grigorowitsch I -5 von 1930 (zweihundertachtzig Kilometer pro Stunde).
Und so bestiegen Dr. Kollwitz und Frau die Straßenbahn, die sie an dem mit Brettern vernagelten Fenster eines vierstöckigen Hauses vorüberfuhr, an Bäumen und Vögeln und Schatten an der Brücke über den Fluss; dann kam ein Fahnenzug, dessen vierzehn blutrote Banner sich gegen die Großfinanz wandten, den giftigsten Kopf der jüdischen Hydra, und sie glaubte, den Mann zu sehen, den hageren Mann, der die ganzen Jahre hindurch vor ihrem Fenster gestanden und unter seinem Zylinder Grimassen geschnitten hatte, aber jetzt trug er eine braune Uniform, und sein rechter Arm reichte bis in den Himmel, und er schrie in Ekstase. Die Straßenbahn bimmelte und fuhr um die Ecke, und kaum hatten sie sich versehen, waren sie schon am Ostbahnhof. Auf den Stufen bettelten schiefe, gebückte Gestalten, wie aus einer ihrer Radierungen gekrochen. Käthe gab ihnen alles Kleingeld, das sie in der Tasche trug, während Karl geduldig lächelte, sich den Bart strich und auf das Gepäck aufpasste.
Beide hatten einen kleinen Handkoffer. Ihre Fahrscheine hatten sie selbst gekauft, sie wussten, das wir ihnen das Geld erstatten würden. Sie gingen nach oben auf den Bahnsteig. Der Zug fuhr ein. Sie hatten reservierte Plätze. Sie verstauten ihr Gepäck und setzten sich. Und der Zug fuhr ab. Sie würde nie den Zug mit den Soldaten vergessen, der so langsam losgefahren war, und Peter hatte ihr dabei aus dem Fenster zugewinkt. Der Kaiser hatte den Truppen beim Abmarsch munter zugerufen: Wenn die Blätter fallen, seid ihr wieder zu Hause!
Ein kleines Mädchen mit rotblondem Pony zog das Zugfenster herunter, bis sie ihr Kinn darauf legen konnte; sie beugte sich vor, blickte sich um, reckte sich und drehte sich so flink wie ein Molch. Karl stellte ihr die Leselampe ein. Käthe saß da und schrieb in ihr Tagebuch: Zum Tod muß ich noch Blätter machen. Muß muß muß!
27 Russland hatte sie immer schon besuchen wollen.
Der deutsche Junge, der mit ihnen im Coupé saß, die Beine übereinandergeschlagen und halb bewusst mit seinen rabenschwarzen Haaren spielend, las Hölderlin, eine Wasserflasche unter den Arm geklemmt. Plötzlich merkte er, dass die Frau des Doktors wichtig war; aber da war es schon zu spät. – Nun ja, wir glauben, man müsse sich zwischen Hölderlin und Kollwitz »entscheiden«, aber was ist Kultur
denn anderes als eine historisch determinierte Form gesellschaftlicher Ordnung?
Je weiter sie nach Osten kamen, desto kälter wurde es. Als sie die Grenze überquerten, schneite es sogar. – Das ist eine andere Welt, sagte Karl. – Nachdem sie umgestiegen waren und man ihre Papiere kontrolliert hatte, erreichten sie den Weißrussisch-Baltischen Bahnhof mit drei Stunden Verspätung, wurden aber auf dem Bahnsteig von einem Mann in himbeerfarbenen Stiefeln erwartet. Er führte sie zu einem unserer flachen, schwarzen russischen Automobile, deren Kotflügel sich doppelt
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