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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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sei denn, er war Raketenbauer. Als die Bundesrepublik ein wichtiger Verbündeter der Anglo-Amerikaner im Kalten Krieg geworden war, wurde der Band in Washington, D. C., ins Nationalarchiv eingestellt und in der Folgezeit falsch eingeordnet. So konnten die meisten der dort Aufgeführten nach dem Krieg im Wohlstand leben. Auf seinen Seiten sind für alle Zeit die Namen von Sturmbannführer Günther, Dr. Pfannenstiel (gegen den die Anklage fallengelassen wurde), Hauptmann Wirth, Obergruppenführer Globocnik und vielen anderen verzeichnet – zufällig fällt mein Blick auf die-Personalakte von Hellmuth Becker, dem Befehlshaber der-Division »Totenkopf«, der gerne auf offener Straße russische Frauen vergewaltigte. – Aber auch hier findet Gersteins Name sich nicht.
    Was ist Gerstein also? Wo sollte er verzeichnet stehen? –.
    Seine Geschichte ist ungewöhnlich und daher erschütternd, wie Ganzfigur-Reliefs der Heiligen auf ansonsten kahlen Mauern.
    Jetzt war diese Geschichte wirklich in Gang gekommen, so wie der Strick, der sich von geölten Spulen abrollt, wenn sich die Falltür des Galgens öffnet. Er fiel; zwischen Anfang und Ende konnte er etwas aus sich machen. Im Zug von Warschau nach Berlin begegnete er einem schwedischen Attaché und erzählte ihm, was er in Belzec gesehen hatte, flüsterte es ihm die ganze heiße und grausige Nacht hindurch ins Ohr. Bald sprang er in die Gegenwartsform: Die Menschen stehen einander auf den Füßen. Siebenhundert, achthundert auf fünfundzwanzig Quadratmetern! Baron von Otter stand steif neben ihm auf dem Korridor des Schlafwagens, das Gesicht vom Atem des blonden Mannes weggedreht. Im Generalgouvernement war es stockfinster. Zum Glück würden sie den Bahnhof Radom bald hinter sich haben und dann wären sie an der Reichsgrenze; dann würde es nicht mehr lange dauern, bis er fliehen konnte. Er zündete sich noch eine Zigarette an. Wenn er das Zuhören nicht mehr aushielt, nickte er höflich und bewegte die Lippen, so
dass Gerstein glauben musste, er bete für die toten Juden, dabei sagte er nur eine Liste aller Namen auf, an die er sich von seinem jüngsten Besuch auf einem rumänischen Friedhof erinnern konnte: Ekaterina, Eufrosina, Maria, Gelu, Andrei, Gheorge, Nicu, Leni, Ionifia, Elena, Eleffenie, Melinte. Sprachen waren sein Hobby. Irgendwann wollte er Rumänisch lernen. Bestimmt nicht ganz einfach für einen Lateiner. Elena, Eleffenie, Melinte. Dann ging das Licht an, schien grell auf die vielen blau angelaufenen nackten Körper, und einer von ihnen regte sich noch; eine Frau streckte die Arme zum Fenster hin, also schalteten sie das Licht wieder aus und Elena, Eleffenie, Melinte. Er wollte wissen, wie akkurat Gerstein diese angeblichen Opfer gezählt hatte. Der blonde Mann würgte heraus: Meine Stoppuhr hat alles brav registriert. Fünfzig Minuten, siebzig Sekunden – der Diesel springt nicht an! Die Menschen warten in ihren Gaskammern. Vergeblich! Man hört sie weinen, schluchzen …
6  – kurz, er war der gefährlichen Fähigkeit des Untermenschen zum Opfer gefallen, ein menschliches Gesicht aufzusetzen (das seiner Schwägerin zum Beispiel), um Mitleid zu erregen.
    Baron von Otter schickte seiner Regierung einen Bericht, aber er mussgestempelt worden sein, denn er wurde erst drei Monate nach Kriegsende veröffentlicht.
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    Was Gerstein anging, der schlug das Neue Testament auf und las: Lasst die Toten ihre Toten begraben. Dann kam der Schrecken über ihn wie eine Krankheit.
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    Es ist ganz natürlich, dass man glaubt, oder glauben möchte – Trägheit ist Selbstschutz –, dass wir, wenn wir erst einmal den Bleischrank, den dunkelgrauen Hefter geöffnet haben und von einem erschütternden Geheimnis lesen, das eine Geheimnis kennen, in dem alle anderen aufgehoben sind (sollte es überhaupt noch andere geben); weshalb wir uns nicht mehr die gefährliche Mühe machen müssen, nach weiteren zu graben. Die Verlockungen der inneren Ruhe, die die meisten Deutschen davon abhielten zu tun, was Gerstein versuchte, lassen
uns sagen: Ich habe jedenfalls meine Pflicht getan. Den Rest müssen die anderen erledigen.
    Seit seinen Kindertagen litt er an dem, was sein Vater böse Gedanken nannte, womit eine Innenschau der melancholischen, vereinsamenden Sorte gemeint war. Wenn er nur nie diese Gedanken gewälzt hätte! Dann hätte er sich und anderen nicht so große Schmerzen zufügen müssen …
    Die Kapazität von Belzec belief sich auf fünfzehntausend Morde am Tag.

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