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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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enttäuschen, was, Gerstein?
    Auf keinen Fall, Herr Sturmbannführer …
    Als Nächstes zeige ich Ihnen den Friseurraum, dort rasieren wir den Frauen die Köpfe. Wir machen übrigens ganz guten Profit mit den Haaren. Jüdinnen scheinen ihre Haare besonders gut zu pflegen. Ein Rassemerkmal vermutlich. Dann die Gasse da drüben mit Stacheldraht auf beiden Seiten, die führt zum Badehaus, und da brauchen wir nun Sie.
    Zu Befehl, Herr Hauptsturmführer …
    Eine nackte blonde Jüdin blickte Gerstein ohne Scham oder Hoffnung an, hob die Hände nacheinander über den Kopf und wischte sich mit einem Lumpen, den man ihr noch nicht weggenommen hatte, die verschwitzten Achselhöhlen aus. Ihr Achselhaar war wie goldener Draht. Hauptsturmführer Wirth sah, wie Gerstein sie anblickte, und schüttelte den Kopf.
    »Die Natur an sich ist grausam, Gerstein«, sagte Sturmbannführer Günther.
    6
    Lassen Sie die Stoppuhr laufen, Gerstein.
    In einem Wutanfall schlug Hauptsturmführer Wirth mit der Peitsche nach Heckenholts ukrainischem Gehilfen.
    Nach zwei Stunden und neunundvierzig Minuten bekam Heckenholt den Dieselmotor zum Laufen. Zweiunddreißig Minuten darauf waren alle Juden tot.
    Ohne sich an jemand Bestimmten zu wenden, sagte Gerstein: Der Führer hat persönlich gesagt, Madagaskar sei ein annehmbarer Wohnort für die Juden.
    Sie müssen wissen, mahnte Hauptsturmführer Wirth, dass die Wünsche des Führers in dieser Angelegenheit streng geheim sind. Eins dürfen Sie nicht vergessen: Die Endlösung ist der einzige Weg, die Gefahr von Epidemien einzudämmen.
    Ich verstehe, Herr Hauptsturmführer.
    Was nun?, fragte er sich. Die Antwort erwies sich als logisch: Eisenhaken in die Mäuler, und dann strahlte Hauptsturmführer Wirth über
seiner Konservenbüchse mit den Goldzähnen toter Juden. (Die Ukrainer waren mit einem goldenen Amtsstab aus dem sechzehnten Jahrhundert, ein paar Münzen und der Elfenbein-Statue irgendeines Heiligen abgehauen.) – Ins Massengrab! Benzin und ein Streichholz!
    Dr. Pfannenstiel trat ein wenig wackelig an die Grube und sagte: Diese Leichen sind nicht ganz verbrannt worden.
    Na und? Das sind bloß Juden!
    Dr. Pfannenstiel räusperte sich und erklärte vorwurfsvoll: Darum geht es nicht. Die ganze Angelegenheit ist hygienisch nicht einwandfrei.
4  –
    Gerstein war sich sicher, dass sein Entsetzen so deutlich sichtbar war wie ein Eisernes Kreuz, aber wieder platzte eine seiner Illusionen. Alle lächelten den hübschen jungen Mann an. Hauptsturmführer Wirth schlug ihm auf die Schulter und sagte: Es gibt keine zehn lebenden Menschen, die so viel gesehen haben wie Sie oder je so viel sehen werden.
5
    7
    Es gibt ein Stammbuch guter Menschen. Öffnen Sie den grauen Hefter und lesen Sie: Die Namen und Identifikationsnummern dieser Gerechten finden sich getippt in der linken Spalte, gefolgt von weiteren Kästchen, die in dieser Reihenfolge die Einsatzdaten, die angewandten Methoden und die Zahl der Geretteten enthalten. Um die Wahrheit zu sagen, ich hatte mir dieses Stammbuch wie einen jener griechischen Kodizes vorgestellt, mit goldenen Ankern und Kronen an den Rändern; aber Gutes tun ist ein so graues, schlecht bezahltes Geschäft, dass die Engel sich nur einen Armeebuchhalter leisten können; nicht einmal die alphabetische Ordnung wird hier eingehalten, weshalb wir auf einem dieser losen Blätter, in dieser Reihenfolge, Dr. Hermann Maas aus Heidelberg finden, der vielen Juden bei der Auswanderung nach England und in die Schweiz half (1944 kam er ins Arbeitslager, überlebte den Krieg aber trotz seines fortgeschrittenen Alters); Pastor Erik Mygren aus Berlin, dem die Israelis den Titel Gerechter unter den Völkern verliehen haben; und Dr. Elisabeth Abegg, ebenfalls aus Berlin, die ihren Schmuck verkaufte, um die Flucht von Juden finanzieren zu können. – Der Name von Kurt Gerstein findet sich nicht.
    Es existiert ein weiteres Verzeichnis, viel umfangreicher als das erste;
ein altes Buch, auf dessen Deckblatt über einem einzelnen roten kyrillischen Wort ein riesiger Balken aus Dunkelheit hängt, mit einem weißen Gitter darauf, dann kommen Spinnennetze, eingefasst von einem Kreuz. Dieses Buch ist groß wie ein Grabstein; der Umschlag ist aus Blei gegossen; sechs starke Männer müssen es tragen. In Nürnberg ließ die Anklage es als Beweismittel gegen alle Hauptkriegsverbrecher in den Saal bringen; wenn der Name des Angeklagten auf einer beliebigen Seite zu finden war, war der Schuldspruch sicher, es

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