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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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zwei, denn zwei in den Kopf seien zu viel; zwei rissen einem praktisch den Kopf
ab;
11 und da wurde Gerstein klar, dass Hauptmann Wirth, dieser blasse Brillenträger mit dem verkniffenen Gesicht, das erst offener wurde, als er über die Aktionen T4 und Reinhardt sprach, dass dieser Hauptmann Wirth mit seinem Eisernen Kreuz mit Spange und seiner Totenkopfmütze höchstwahrscheinlich alle Opfer in Hadamar persönlich umgebracht hatte – mit anderen Worten, er war Berthas Mörder.
    10
    Seinem Freund Helmut Franz sagte er einmal auf seine typisch didaktische Art: Die Zeiten lassen mir keine andere Wahl, ich muss mich auf Messers Schneide bewegen und gefährlich leben. – Das war im goldenen Sommer '41, als wir rasch immer tiefer nach Russland eindrangen und Kurt Gersteins Kameraden den Soldaten auf den Fersen folgten und Juden aus den Städten schafften, ohne Rückfahrkarte. Definitives wusste Gerstein noch nicht; die Einladung nach Belzec stand noch aus. Aber er war ein-Mann, er bewegte sich auf Messers Schneide. Das Kommende wurde zu einer schwarzen Gruft mit eisernem Ring.
    Nun zog er also an dem Eisenring; Freude machte es ihm nicht. [ 36 ] Er träumte, wie das Schwarz auf seine Hände abfärbte, und dann …
    Er ging heim, zu seines Vaters Haus. Seine Frau wartete auf ihn. Sie bot ihm ihre wächserne Wange zum Kusse. Sein Vater kam langsam die Treppe herab und begrüßte ihn mit einem verschlafenen Heil Hitler. Die Kinder waren schon lange im Bett. Es gab ein Abendessen, unter den herrschenden Umständen ein gutes; Elfriede hatte getan, was sie konnte; und er fragte sich, was das arme Ding von ihm gedacht hätte, wüsste es, dass er die ganze Judenbutter abgelehnt hatte.
    11
    Unter dem Porträt seines ältesten Bruders, an den er sich kaum noch erinnern konnte (1918 an der Westfront gefallen), saß sein Vater im Lehnsessel und zog ein Gesicht über einen Artikel in der Illustrierten Signal, von drei reizenden jungen Ostarbeiterinnen (dem Aussehen nach Russenmädchen), die kichernd in knielangen Röcken auf dem Rasen vor dem Potsdamer Schloss posierten. Sie kleiden sich bereits nach der europäischen Mode und haben schnell den Stil westeuropäischer Frisuren übernommen. Auf der gegenüberliegenden Seite fand sich ein weiteres Farbfoto von Panzern, die auf einen italienischen Frachter rollten, auf dem Bild dominierten das satte mediterrane Aquamarin und Umbra, alles war sommerlich. Die Bildunterschrift lautete: »Nachschub für Tunis.«
13
    Ha!, sagte der alte Mann plötzlich, weil ihm etwas eingefallen war. Ich habe vergessen, dir das zu schreiben, Kurt. Da hat schon wieder ein Jude versucht, uns unseren Namen zu stehlen. Wieder ein Goldstein. Aber diesmal haben sie ihn erwischt. Weißt du noch, wie ich mich damals '33 über den letzten Fall beschwert habe? Und sie haben nie geantwortet. Na ja, diesmal haben sie ihn sich geschnappt, dem Allmächtigen sei Dank. Und ab mit ihm!
    Wo haben sie ihn gefangen, Vater?
    In der Polytechnischen Hochschule, mitten in Berlin, man fasst es nicht! Ein ganz Schlauer, hat keinen Judenstern getragen. Sein Vorname war irgendwie russisch. Sie werden wohl ein Exempel an ihm statuieren müssen. Was es heutzutage nicht alles gibt! Obwohl, ich kann mich an noch einen Fall erinnern, da hat ein gewisser Richard Goldstein aus Hamburg …
14
    Die Geschichte hast du uns schon oft erzählt, Vater.
    Ludwig Gerstein starrte seinen Sohn an. Dann stand er auf und verschwand wie ein dunkler Planet, der still aus seiner Achse kippt.
    Warum konntest du ihn nicht reden lassen, Kurt? Das war ganz harmlos, und ihn macht es glücklich. Jetzt hat er Angst, dass du ihn für senil hältst …
    Früher hat er immer gesagt, er bedaure, was da gemacht wird.
15
    Und dass er es an mir auslassen wird, wenn du weg bist, ist dir natürlich egal.
    Aber Kurt Gerstein blickte sie mit derselben unnachgiebigen Festigkeit an wie sein Vater.
    12
    Sie würde nie verstehen, warum er ihr nicht erlauben wollte, mit den Kindern nach Berlin zu ziehen. – Vater braucht Pflege, mehr hatte er dazu nicht zu sagen. Und wenn wir in Zeiten wie diesen das Haus aufgeben, bekommen wir es nie zurück.
    Wir wären alle lieber bei dir, Kurt. Aber dir sind wohl die Söhne dieser Witwe wichtiger, die du aufgenommen hast.
    Du hast selbst gesehen, wie arm Frau Hedwig ist!
    Das war natürlich eine akkurat ausgeführte Wohltätigkeitsoperation, sagte Elfriede mit bösem Lächeln. Und deine eigenen drei Kinder lässt du bei mir allein.
    Er

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