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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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schwieg. Tübingen war die Stadt seiner Kindheit, der Ort, an dem seine theologischen Studien gescheitert waren. Hier war er ein anderer gewesen. Die Verdunklungsvorhänge waren ein Segen! Er hasste den Anblick von Tübingen.
    Nun, fuhr seine Frau fort, und wie geht es ihnen jetzt?
    Wem?
    Über wen reden wir denn? Hedwigs Jungs.
    Mit einem Gefühl, als sprächen sie über Menschen, die sie beide nie persönlich getroffen hatten, suchte er nach Worten und sagte schließlich: Sie sind natürlich in der Hitlerjugend.
    Sie sehen bestimmt toll aus in ihren Uniformen. Wie Zwillinge!
    Was willst du damit sagen?
    Nichts. Ich gehe ins Bett.
    Dann geh mit Gott, sagte er.
    Als er um sie warb, taten sie gemeinsam so, als habe er ein verzaubertes Schloss von den Riesen befreit und so seine wunderschöne Geliebte gewonnen. Über so dumme Spielchen war Elfriede längst hinaus.
    13
    Seinen guten Manieren und seinem lupenreinen Stammbaum zum Trotz war Kurt Gerstein bei seinen Kameraden von derweniger beliebt, als man hätte erwarten können. – Er hat zu Gott gefunden, hieß es von ihm. Ohne hätte er uns besser gefallen. – Oder, um die Geschichte freundlicher zu formulieren: Keine Freundschaften lenkten ihn von seinen Dienstpflichten ab. Entsprechend wurde Gersteins Berufsleben so schön wie die Berge, die man auf dem Weg nach Auschwitz im Süden
sieht. In seiner Dienstakte aus dieser Zeit heißt es: G. ist besonders geeignet für alle Aufgaben der Schulung. Er ist diszipliniert und autoritativ.
16 Inspektoren von Vergasungslastwagen kamen bald zu ihm, wenn sie sich über unsachgemäße Verfahrensvorschriften beschweren wollten. Sie ließen sich tief in das niedrige Ledersofa sinken, griffen sich die neueste Signal vom Beistelltisch, fanden das erste ganzseitige Foto langweilig (der glänzende Kühlergrill einer Ju-52, die gerade von einem unserer sonnengebräunten Landser in Afrika geschrubbt wird), sagten »Zucker« oder »kein Zucker« zu der wachsamen, schullehrerhaften Sekretärin und Schreibkraft und warteten dann, bis der Mann am anderen Ende des riesigen Büros damit fertig war, ins Telefon zu brüllen: Dann sagen Sie ihnen, dass Sie morgen Mittag besser fertig sind, sonst ab durch den Schornstein mit ihnen! Haben Sie verstanden? Das will ich Ihnen auch geraten haben. Heil Hitler!, und damit knallte er den schweren schwarzen Hörer wieder auf die Gabel – »wie ein Waffenschmied den Hammer auf den Amboss«, dachten die Poeten unter ihnen –, und keiner bekam je mit, dass es den Menschen, den er angebrüllt hatte, gar nicht gab (im Grunde genauso wenig wie den Brüllenden selbst). Da kam er nun, mit schiefem Lächeln, weil er sich seiner Zahnlücken schämte; sie sprangen für ein Heil Hitler! auf, und dann fragte-Obersturmführer Gerstein, der liebe blonde Kurt Gerstein mit dem zurückgekämmten Haar, was er für sie tun könne. – Die Fahrer stellen immer die Motoren falsch ein, Herr Obersturmführer, und es nützt nichts, wenn man sie herunterputzt! Für die Reinigungstrupps ist das wirklich nicht schön, das kann ich Ihnen sagen! Die Juden erbrechen und machen unter sich, bevor sie … –
17 Und der lächelnde blonde Kurt Gerstein, der eine Mann bei der, der sie verstand, gab ihnen recht, das gehöre sich nicht, er versprach, eine Untersuchung zu veranlassen, bat um Details zur Zahl der getöteten Juden, zu den Orten der provisorischen Vernichtungszentren, den Abmessungen der Massengräber und so weiter, was sie ihm, da diese Angelegenheitenwaren, wirklich nicht hätten sagen dürfen, aber wenn man einem-Mann nicht trauen kann, wem dann? Und seit Auschwitz zur vollen Kapazität hochgefahren worden war, verbesserten sich die Arbeitsmethoden in unseren Ostgebieten so langsam. Das hielten manche für Kurt Gersteins Verdienst.
    Haben Sie je unsere Panzer und Artilleriegeschütze in fein säuber
lichen Karrees auf dem grünen Gras Deutschlands aufgestellt gesehen? (Wenn ja, wird man Sie hoffentlich nicht dafür erschießen!)-Obersturmführer Gersteins Büro war genauso ordentlich angelegt, jeder Aktenstapel zwanghaft auf Kante, wie aus Angst vor einer Inspektion, das neueste Signal- Heft genau in der Mitte des Beistelltischs, alle Aktenschränke abgeschlossen, ein halbes Dutzend Führerbilder rundherum an den Wänden nach Größe aufgehängt; und alle Stifte genau ausgerichtet und senkrecht in ihre Halter gestopft wie Juden in die Gaskammer – na, Sie wissen schon. Im Umgang mit den Kollegen war Gerstein immer

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