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Europe Central

Europe Central

Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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neuen Gruben versickerte, ohne Profite abzuwerfen, wie da sein Blut von der Erde aufgesogen, sein Gedächtnis mit einer Mauer abgetrennt wurde wie das schwärende Herz von Schostakowitschs noch ungeschriebenem Streichquartett Nr. 8 (op. 110) und die verkohlten Reste der jüdischen Dörfer rasch von einem Gras überwuchert wurden, das älter war als alle Schuld. Die Jäger glaubten noch immer an die Jagd (schließlich gab es in unserer Ukraine willige Ukrainermaiden, in Russland Russenmädchen und so fort). Aber langsam fühlten sie sich, als würden sie auf Feldmäuse schießen statt auf Rotwild.
    Bis sich die Ostfront stabilisiert …, sagte Sturmbannführer Günther nun ständig. Er hatte begonnen, das jüdische Eigentum in den beiden letzten Marken Böhmens zu erfassen. Die früheren Besitzer marschierten am Prager Pulverturm vorüber, dessen Flachreliefs matronenhafter Jungfrauen und froschartiger Ritter alle schwarz angelaufen waren und alt. Dann ging es ab nach Theresienstadt, wo gewartet werden musste, bis in den Öfen von Auschwitz wieder Platz war. Was Gerstein anging, er magerte ab bei dem Versuch, den Inhalt weiterer Geheimdokumente zu erfahren. Das ehrt ihn, werden Sie vielleicht sagen. Seine Kameraden waren enttäuscht, weil er keine Zeit fand, sie ins Kino zu begleiten und Lisca Malbran zu bewundern. Meistens pendelte er zwischen Prag und Berlin, aber mir ist, als könnte ich ihn in Dachau sehen, wo aus experimentellen Gründen russische Gefangene eingefroren wurden, wobei deren sinkende Körpertemperatur rektal gemessen wurde; und ebenso war er in Birkenau, wo seine Kameraden von derdie interessantesten Schädel jüdisch-bolschewistischer Kommissare sammelten, sie klassifizierten und ihnen dann Schildchen anhängten, so bunt wie Mussolinis Orden. (Da war Bertha wieder. Ihre Augen erinnerten an jene der italienischen Prinzessin, die im Bordell von Buchenwald gestorben war.) Ich sehe ihn in Prag auf dem Bürgersteig vor dem Deutschen Haus auf- und abgehen, während die Wimpel mit den Kränzen und Hakenkreuzen über seinem Kopf immer mehr verblassten; und da kam der Transport: fünfzehn grüne Minnas, deren hohe vergitterte Fenster ihm nichts als Dunkelheit zeigten; er wusste aus Erfahrung, dass man bis zu fünfzig Menschen hineinpacken konnte, wenn sich die Packer nicht um ein
paar Erstickungstode scherten, das bedeutete also maximal siebenhundertundfünfzig weitere Opfer Hitlers, die gerade eben (um 11:45 Uhr) an seiner Straßenecke vorübergekommen und verschwunden waren, während er so tat, als würde er sie nicht zählen; ihr Ziel musste der Petschekpalast sein, wo die Gestapo operierte; seine Wahrheitssuche verlangte, dass er dort den ankommenden Verkehr überwachte, aber die Mäßigung hielt ihn davon ab. Wenn er mit seinen streng geheimen Lieferscheinen für Zyklon B die Schaltstelle Europa durchquerte und durchschnitt, hatte er manchmal Zeit, den düsteren und doch seltsam angenehmen Duft alter Kirchenmauern zu atmen, gesättigt mit fünfhundert Jahren Weihrauch, Atem und dem Dampf von frisch gebackenem heiligem Brot. Statt Erleichterung brachten seine Gebete ihm nur Verzweiflung. Wie konnte er bestreiten, dass Wissen Sünde und Tod bedeuten konnte, dass seine Wahrheitssuche ihn mit dem Schrecken angesteckt hatte, dass er nun Komplize war, solange er die Juden nicht rettete? – Aber seine Hände waren sauber.
    Im August 42, als seine Schreckensvisionen widerhallten wie schwere Schritte in einer alten Kirche, suchte er den päpstlichen Nuntius in Berlin auf, um Zeugnis abzulegen. Monsignore Orsenigo wollte ihn nicht empfangen, vielleicht der-Siegrunen wegen, die auf den Schilden seitlich an seinem dunklen Helm prangten. Nun meidet Unfug jederzeit, pflegte sein Vater zu sagen
20 , aber Kurt Gerstein, der noch viel lernen musste, bestand auf einer Audienz, bis man ihn bat, in Gottes Namen zu gehen. Als er die Gesandtschaft verließ, blass und zittrig, heftete sich ein Polizist an seine Fersen, dann folgte dem ersten ein zweiter auf einem Fahrrad. Er wechselte die Richtung, schlich sich an einer Mauer entlang, auf der ein Plakat (ein wenig angeschmutzt und eingerissen, denn es handelte sich um die »Parole der Woche« aus dem vergangenen Monat) den Judenstern zeigte, mit der Erläuterung.
21 Die beiden Polizisten verfolgten ihn weiter. Sein erster Gedanke war, bei Bischof Dibelius anzuklopfen, aber er wollte niemanden in sein Unglück mit hineinziehen. (Ich kann fast nichts tun, hatte Bischof

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