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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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dass es in Prag viel zu essen gibt. Du fährst doch nach Prag, oder?
28
    Ja.
    Hast du uns etwas aus Prag mitgebracht?
    Lass deinen Vater essen, sagte Elfriede. Siehst du denn nicht, wie müde er ist?
    Nimmst du uns irgendwann mit, Vati?
    Nach dem Krieg, erwiderte er, den Kopf in die Hände gestützt.
    Wie viele Burgen gibt es dort? Und welche Farben hat ihre Fahne? Ich muss in der Schule etwas über Fahnen machen.
    Heute haben sie natürlich die Hakenkreuzfahne. Was haben eure Lehrer euch denn bloß erzählt?
    Er hat diesmal keine guten Noten bekommen, verkündete Elfriede barsch, und Gerstein wusste, dass er es war, der abwesende Mann, der bei ihnen durchfiel. Gute Taten muss man zuallererst zu Hause tun, ging das Sprichwort, und er tat seine guten Taten in weiter, weiter Ferne, für eine Rasse, an deren Ausrottung man sich später nicht einmal erinnern würde! Lasst die Toten ihre Toten begraben , wie es in der Bibel heißt. Einen Augenblick lang malte er sich aus, wie er mit seiner Familie auf Urlaub nach Prag reiste oder wenigstens Christian mitnahm, damit der Junge die reichverzierten Türme sah, die geschwungenen steinernen Balkone mit unseren langen blutroten Bannern daran, deren Hakenkreuze uns alle stolz machten; es war nicht Deutschland, es waren diese Teufel, die …
    Wenn du das nächste Mal nach Prag fährst, kannst du uns dann etwas richtig Schönes zum Essen mitbringen, Vati?
    Christian, sagte Elfriede, aber weniger scharf, als man hätte erwarten können, du weißt doch, dass du mit deinem Vater nicht so sprechen darfst! Entschuldige dich!
    Entschuldige, Vati. Was gibt es denn in Prag zu essen, Vati?
    Er wollte etwas Nettes sagen. Er sagte: Na ja, manchmal gibt es Entenbraten.
    Mit Rotkraut?
    Jetzt reicht es aber, sagte Ludwig Gerstein. Du darfst ihm nicht böse sein, Kurt.
    Ich bin nicht böse, Vater. Warum ist es hier so dunkel?
    Es ist nicht dunkel. Das Feuer scheint sehr hell.
    Nein, das liegt an den Verdunklungsvorhängen. So eine lächerliche Vorschrift. Die Alliierten haben Geräte, mit denen sie ohne Licht ihre Ziele genau bestimmen können …
29
    Kein Defätismus, Kurt!
    Alle schwiegen, bis die Suppe abgeräumt war, und dann fragte Christian leise und schüchtern: Darf ich mal deine Mütze sehen, Vati?
    Mit einem erleichterten Lächeln reichte Gerstein sie ihm über den Tisch. Er konnte sich noch erinnern, wie er als kleiner Junge Soldaten gesehen hatte und selbst einer werden wollte.
    Der Totenkopf ist schön!, lachte das Kind.
    Dummkopf! Den hast du doch schon gesehen!
    Bitte, Mama, lass ihn mich noch ein bisschen angucken!
    Lass ihn, entschied Ludwig Gerstein. Das kann dem Jungen nicht schaden.
    Wenn ich groß bin, darf ich dann in diewie du, Vati?
    Natürlich, sagte Gerstein und kämpfte mit den Tränen.
    19
    Im November '44 schlossen sie Belzec, nachdem sie eine halbe Million jüdisch-polnischer Banditen beseitigt hatten. Sie verbrannten die Leichen, erschossen die Arbeitsjuden und verbrannten auch sie, zerstörten die Einrichtungen und legten ihren Abschlussbericht in einem Ordner mit dem Bittgebetab. Dann ging es mit dem Auto zurück nach Lemberg, zum Feiern in einem der RestaurantsEhrlich gesagt, Belzec war sozusagen nie mehr als ein Hundert-Kilometer-Übungsmarsch gewesen; der eigentliche Kampf musste in Auschwitz ausgefochten werden, das für die Öffentlichkeit den Namen Lager A trug. Der gute blonde-Obersturmführer Kurt Gerstein war von Anfang an eingeweiht; mit seinen Kameraden sang er »Erika«, ein bei den Panzertruppen in Stalingrad sehr beliebtes Lied; und dieser Gerstein hatte eine wunderschöne Stim
me; angeblich war er früher in der protestantischen Jugendbewegung tätig gewesen, da dürfte er zu seiner Zeit manch einen Chor geleitet haben. Genau genommen sah er auch aus wie ein Chorleiter, mit seinen seltsam zarten Augen, den fein geschnittenen mädchenhaften Lippen und einem Gesicht, fast so blass wie der Doppelblitz, der fahl das Dunkel seines rechten Kragenspiegels durchschnitt; ein sehr schneidiges silberschwarzes Bild gab er ab; seine Haltung, mit dem leicht in den Nacken gelegten Kopf, wirkte auf den ersten Blick selbstbewusst, aber dann kam der zurückgeworfene Kopf dem aufmerksamen Beobachter vor wie die Art Positur, die zum Beispiel eine polnische Geisel vor dem Erschießungskommando einnehmen mochte (sein Glück, dass es in dieser Welt so wenige aufmerksame Beobachter gibt); wir haben erlebt, wie überraschend oft dieser rassische Abschaum tapfer zu sein

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