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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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bewusst; sie wusste, dass
er mitlas; aber später, Jahre später, hatte er den Verdacht, sie habe seinen Schmerz überhaupt nicht bemerkt; denn wer sind wir, uns für so interessant zu halten, und sei es für unsere Ehepartner, dass die anderen uns wirklich deuten könnten? Damals kam es ihm so vor, als wären ihr seine Gefühle, die ihr natürlich unangenehm sein mussten, völlig klar und als habe sie ihren Weg gelassen in dem Bewusstsein fortgesetzt, ihn damit zu verletzen, mit leisem Bedauern, aber in der Gewissheit, dass an ihrer Natur nichts zu ändern war oder geändert werden sollte. Er bewunderte ihre Beharrlichkeit; er hasste und verehrte sie; währenddessen wünschte er sich, ein jeder von ihnen könnte sein, was sie nicht sein konnten; und all dies vollzog sich im Bruchteil einer Sekunde, als sie beieinanderstanden und lasen: Ich glaube auch, daß Bisexualität für künstlerisches Tun fast notwendige Grundlage ist. So war sie nun einmal. Das war sie nun einmal. Und ihre Lust auf Frauen konnte er unmöglich befriedigen.
    Aber das war es doch gar nicht! Er konnte sich wirklich vorstellen, ihr Zusammensein mit jeder beliebigen Frau, die sie sich aussuchte, zu akzeptieren, solange sie dabei auch ganz bei ihm war. Das war es, was ihn quälte.
    Und in diesem Augenblick war er überzeugt, dass Elena überhaupt nicht bisexuell war, dass sie zwar behauptete, Frauen zu begehren, dahinter aber nur ihre Gefühle für Schostakowitsch verbarg.
    Aber vielleicht glaubte er nicht einmal das; vielleicht reimte er es sich später so zusammen und wusste nur noch, dass Elena und er, die in ihrem Verlangen nach körperlicher Liebe nun so weit voneinander abwichen, dass das Thema für beide qualvoll war, nebeneinanderstanden und etwas lasen, was sie beide an diese Differenz erinnerte. Dann ging Elena nach draußen, eine Zigarette rauchen. Er folgte ihr nicht. Da hatte sie den Augenblick wahrscheinlich schon vergessen.
    Er vergaß ihn nie. Jetzt kam er ihm im Zelt im Hauptquartier der 62. Armee wieder in den Sinn. Das Schweigen seiner Frau war der Auslöser.
    Elena ging nach draußen, eine Zigarette rauchen. Karmen saß am Schreibtisch, auf den Ellenbogen gestützt, noch immer im Mantel, er sah blass und müde aus und arbeitete an der Drehfassung des Skripts.
    12
    Nach Stalingrad war das System der geteilten Befehlsgewalt offenbar abgeschafft worden, um das Militär zu belohnen: Die Kommissare würden uns nicht länger im Nacken sitzen. Epauletten wurden eingeführt; es hieß sogar, man wollte den Truppen erlauben, ihre eigenen Frontzeitungen herauszugeben. Dennoch wäre es naiv gewesen, zu glauben, die Kommissare stellten keine Gefahr mehr dar. (Zum Beispiel musste ich – wie der Genosse Alexandrow hier anmerken möchte – nur den Hörer abnehmen, und sofort hätten zwei SMERSCH -Agenten mitgehört.)
    Also hatte der Kommissar vielleicht einfach nur schlechte Laune, vielleicht wollte er auch intrigieren, jedenfalls war er es, der Karmen erzählte, seine Gattin habe den Genossen General Tschuikow besucht, und es sei Musik zu hören gewesen.
    Karmen und der Kommissar waren Männer vom selben Schlag. Sie hatten dieselbe Funktion: mobilisieren, ermutigen, stärken, aufmuntern. Zu diesem Zweck mussten sie die Dinge so darstellen, wie sie sein sollten. Und das machte sie manchmal wirklich müde. Es war wenig überraschend, dass sie einander gut verstanden.
    Wo war Elena? Oh, drüben im Zelt von Natalja Kowalowa, an der Übersetzung von etwas, das mit der-Panzerdivision »Adolf Hitler« zu tun hatte, streng geheim. Und Karmen dachte: Gut möglich, dass Natalja Kowalowa ihr lieber ist.
    Er saß mit dem Kommissar zusammen, sie betranken sich. – Ich weiß noch, was sie früher gemacht hat und heute nicht mehr machen will, sagte er.
    Der Kommissar klopfte ihm auf die Schulter, schenkte ihm nach und sagte: Lass es dir nicht so zu Herzen gehen, Roman Lasarewitsch. Wie der Genosse Stalin sagt: Gefühle sind Weibersache.
16 Bist du wirklich auf der Datscha des Genossen Stalin gewesen?
    Letzten Sommer, sagte Karmen müde. In Subalowo.
    Da kannst du dich glücklich schätzen, Roman Lasarewitsch. Und hat der Genosse Stalin mit dir angestoßen?
    Nein, aber im Arbeitszimmer brannte das Licht.
17
    Aha. Nun, ich muss ganz offen sagen, ich beneide dich trotzdem. Übrigens, wofür hat Elena Jewsejewna ihren Roten Stern bekommen?
    Oh, für Tapferkeit. Sie ist sehr tapfer, sehr ehrlich. Aber zugleich …
    Schließlich versuchte der Kommissar ihn

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