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Immer wenn ich diese Offensive überdenke, sagte der Schlafwandler, der nicht zuhörte, dreht sich mir der Magen um.
Was mich betrifft, mir war ebenfalls nicht wohl, denn obwohl wir Tausende und Abertausende Gefangene machten und zur Entsorgung ins Hinterland schickten (auf dem Schießplatz vor Dachau erschossen wir sie in Fünfhunderter-Chargen), kamen immer noch mehr Russen! Ich kannte niemanden, der nicht von Alpträumen gequält wurde. Dieser feindliche Frontvorsprung, auf dessen Gebiet Marx und Engels die nationale Frage gelöst hatten, der Kursker Bogen, wie viele Russen verbargen sich wirklich darin? Unsererseits verfügten wir über fünfzig Divisionen, zwei Panzerkorps, drei Panzerbataillone, acht Artilleriebataillone: neunhunderttausend Mann! Aber was bedeutet schon eine Zahl im Vergleich mit der Unendlichkeit?
Deshalb haben so wenige von uns das Unternehmen Zitadelle unterstützt. Wir hätten es uns einfach leichter machen sollen: Es war nicht unsere Aufgabe zu siegen; niemand erwartete das. Unsere Aufgabe war lediglich, die Schuld auf uns zu nehmen.
Am Tag, als wir das Siegel unserer Befehle erbrachen, war die Sonne zitronengelb wie die Armbinde eines-Nachrichtenmannes. Wir kamen mit unseren Pferden, Panzern und Krafträdern über die schlammigen Straßen; wir versammelten uns in Erwartung der neuesten schlechten Nachrichten. Der Duft des Weizens der Feinde versetzte uns in Sommerstimmung. Vielleicht hatte der Schlafwandler sich einen Weg einfallen lassen, unsere Kampfgruppen neu aufzustellen. Oder waren vielleicht endlich die V-Waffen einsatzbereit? Rüdiger, der aus meinem Heimatort stammte, glaubte das nicht. Manchmal hockte er neben mir im Schützengraben, blätterte in der Signal des vergangenen Monats und schüttelte den Kopf, während ich dafür sorgte, dass all meine Drähte sicher auf ihren Spulen saßen. Die einzige Geschichte, die sein Gefallen fand, war die Doppelseite über Lisca Malbran. Aber was hätte sie einem in einem Schützengraben schon nützen können? Das wollte Dankwart gerne wissen. Ihr könnt euch denken, dass Rüdiger um eine Antwort nicht verlegen war. Er hatte sie in »Junge Herzen« gesehen, einem politisch einwandfreien E-Film. Er hätte alles darum gegeben, sie in »Zwischen den Fronten« zu sehen, aber dieser Film verschwand schon wieder aus den Kinos, als wir noch auf dem Schlachtfeld die Monate zählten.
4 Nun gut; jetzt waren wir aus den Schützengrä
ben heraus; wir hatten die Sturmpositionen eingenommen, und über unseren Zelten ragten die Rohre der Ferngeschütze des Schlafwandlers auf. – Morgen wird es heiß, sagte unser Rüdiger und schüttelte den Kopf. – Dann beschworen wir unseren bitteren deutschen Idealismus, so gut es ging, und standen stramm. Achtung! Stillgestanden! Die Befehle, in denen die Worte total und nie da gewesen vorkamen, warnten, die Rote Arme habe pro Frontkilometer fünfzehnhundert Panzerabwehrminen und siebzehnhundert Tretminen gegen uns in Stellung gebracht, ganz abgesehen von den einskommadrei Millionen Soldaten.
5 Nun wussten wir also genau, wie sich die Unendlichkeit bemaß. Kurz, wir hatten mit heftigen Gegenangriffen zu rechnen. Egal. Die neuen Tiger-Panzer würden uns retten.
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Da kam aus dem Nichts ein alter Kriegskrüppel und bettelte darum, an unserer Seite kämpfen zu dürfen; er konnte sich noch an die Zeit erinnern, als unter verschneiten Bäumen Pferdegespanne die Kanonenlafetten zogen – diese Tage von anno 41 waren dahin! Es war Sommer geworden; wir hatten uns den Sommer um den Preis der 6. Armee und von vier Einheiten unserer Verbündeten erkauft, ganz abgesehen von den diversen Gebieten, die wir 1942 erobert hatten – alles zu Eis erstarrt. Na und? Noch war es Sommer.
Ehrlich, ich weiß nicht, wie dieser Krüppel von weit her ohne Marschbefehl zu uns durchgekommen war. Aber wenn ich es mir recht überlege, selbst Fünfzigjährige beriefen wir noch nicht ein, weil das Unternehmen Zitadelle ja alles richten würde. Dies war ein uralter Mann, wohl schon über siebzig, auf einem Auge blind, aber flink mit seinen Krücken. Wenn ich heute daran zurückdenke, kommt es mir vor wie ein Traum. Und warum hat er sich gerade uns ausgesucht? Ich gehörte zur 9. Armee, XLVII . Panzerkorps, 9. Panzerdivision, die damals wirklich keine Siege mehr aufzuweisen hatte. In unseren feldgrauen Mänteln, unter den feldgrauen Mützen, die Munitionsgürtel fest geschnürt, waren wir alle so hager wie Panzerabwehrgeschosse,
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