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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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und unter unseren grauen Helmen sahen unsere Köpfe aus wie Gewehrkugeln.
7 Hungrig waren wir und mürrisch, rührten ohne direkten Befehl kaum einen Finger, weil wir wussten, dass wir auch hier wieder einen Wald aus akkuraten Kreuzen zurücklassen würden, mit Helmen auf manchen davon und dreieckigen Dächern über einigen wenigen, alle dazu bestimmt, aus dem Schlamm gerissen zu werden, sobald die Slawen hier am Ru
der waren. Selbst der Gefreite Volker, der unverdrossen versuchte, sich durch Besichtigung der verschiedenen unheimlichen Stätten an unserem Wegesrand zu bilden, konnte Kursk, das vor allem für seine Staatsbank und die Paläste der Romodanow-Bojaren berühmt war, nichts abgewinnen. Ich weiß noch, wie er zu Beginn des Unternehmens Barbarossa einen Blick in jede Hütte warf, bevor wir sie abfackelten, in der Hoffnung auf Spuren von etwas, das über das hinausging, was wir höflich gewisse Lebensformen nannten. Rüdiger pflegte ihm zu sagen: Hat keinen Zweck. Was kann ein Roter schon haben, das von Wert für uns wäre? Selbst ihre Nataschas sind scheußlich! Willst du deutsche Schönheit sehen? Da hast du ein Foto von meiner Tochter … – Aber Rüdiger verstand das nicht. Volker war kein Souvenirjäger; er hatte wenig mit Unteroffizier Dankwart gemein, der einmal einen ganzen Panzer mit bestickten Bauernblusen vollgestopft hatte. Volker – warum erzähle ich von Volker? Er ist tot. Das letzte Mal, das ich ihn aufgeregt sah, war Monate vor dem Unternehmen Zitadelle, als der Volltreffer einer Katjuscha unsere Munitionshalde in einem herrlichen Feuerwerk aufgehen ließ. Der Junge hat mich oft amüsiert. Zwei Kapitel in seinem Reiseführer waren Moskau gewidmet. Im zweiten Kapitel ging es nur um Kirchen, also kann ich Ihnen, bei allem, was ich über die Roten weiß, versprechen, dass es nicht mehr aktuell war; nach Stalins Machtübernahme hätte man das Thema mit ein paar Zeilen erschöpfend behandeln können! Aber was macht das schon? In die Kirche zu gehen wird dich nicht erlösen. Volker wollte nicht in die Basiliuskathedrale, um erlöst zu werden, sondern weil ihre Kuppel ihn an einen Holzkreisel erinnerte, mit dem sein Bruder und er früher gespielt hatten. Dieser Bruder fing sich in Sewastopol eine Kugel in die Kehle. Er fiel für unser Reich. Wollte Volker es den Slawen nicht heimzahlen? Das hätte meiner Ansicht nach seiner Natur nicht entsprochen; er wahr eher an Musik interessiert. Einmal ließ er die Bemerkung fallen, er wäre gern bei der Belagerung Leningrads dabei gewesen, nur um Schostakowitschs neue Sinfonie zu hören! Solche Idealisten halten sich auf dieser Welt nicht lange. Er war übrigens ein sehr tapferer Mann, und im Nahkampf mieden die Russen ihn; sein Gesicht jagte ihnen Angst ein. Zu schade, dass er nie nach Moskau kam, wo es, wie ich gehört habe, viele Annehmlichkeiten gibt; Rüdiger hatte Unrecht; ihre Nataschas sind ganz und gar nicht koboldhaft. Und der Kreml ist mit roten Sternen aus Glas ge
schmückt; wenn ich für meinen Weihnachtsbaum den richtigen finden könnte, würde ich ihn mir mitnehmen. Warum also nicht nach Moskau? Wenn wir den Kursker Bogen erst einmal abgeschnitten hätten und nach Kursk hineingescheppert wären, würden wir zweifellos dorthin gelangen, denn nach der Zerstörung der Zentralfront und der Woroneschfront stünden uns nur noch die Steppenfront und eine unendliche Zahl anderer Fronten im Weg.
    Heute frage ich mich, ob Dankwart nicht recht hatte. Er hatte wenigstens etwas davon; die bestickten Blusen verwandelten sich in Schnaps, Zigaretten und frische Nataschas (Polenmädchen und Ukrainermaiden, sollte ich sagen). Aber er langweilte mich. Sein Lieblingsspruch war: Wir können uns nicht ruhen, bis es beginnt zu tagen.
8 Und inzwischen langweilte Volker mich auch. Er wollte einfach nur wieder verwundet werden, wie jeder andere auch.
    Nur dieser Krüppel nicht! Der wollte ein Held sein. Man stelle sich vor. Als in unserem Nationalepos ein hellseherischer Hagen Gunther warnt, nicht ins Land der Hunnen zu reiten, schimpfen sie ihn einen Feigling, also besteht er wütend darauf, ihr Schicksal zu teilen. Mein Psychoanalytiker würde das Kompensation nennen. Der Schlafwandler würde es edle Opfertat nennen. Es mag eines davon oder beides gewesen sein, denn jetzt ließ der Krüppel uns wissen: Man sieht es mir vielleicht nicht an, aber ich wurde in die Panzergrenadierdivision Großdeutschland aufgenommen!
    Rüdiger schüttelte den Kopf, Gernot schwieg so

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