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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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an eine jener ofengeheizten Kisten auf Kufen erinnert, die unsere Verwundeten auf dem Weg von der Front zum Verbandsplatz am Leben erhalten, hätte sie sich ihm vielleicht sogar hingeben können, aber sie beeindruckte ihn so sehr, dass er verunsichert war; er konnte sie mit einem Blick nicht ganz erfassen; gerade so wie der schwache Glanz der Hängelampe das Zentrum der Karte, unsere gegenwärtige Kampfzone, stärker ausleuchtet als ihre Ränder, nahm er auch sie wahr, so erlebte er sie, und dabei wollte er sie ganz und gar kennen, aber das war bisher nur einem Mann gelungen. Da ist etwas an ihr, dachte er in einem fort, aber er wusste nicht, was es war.
    Er war einfach nur einsam und müde; das war alles. Er konnte sich kaum je ausruhen! Er hatte Stalingrad gesund überstanden, aber noch immer sehnte er sich nach nichts mehr als nach Schlaf. Und bald würde das Tauwetter weit genug vorangeschritten sein, um wieder ernsthafte Operationen einzuleiten. Von Manstein hatte unsere Speerspitzen vom Dnjepr abgelenkt und Charkow wieder eingenommen; das würden wir bereinigen müssen. Am 17. Juli würde er sich an der Donez-Mius-Offensive beteiligen, um die Südflanke unserer Woroneschfront gegen das Unternehmen Zitadelle der deutschen Faschisten zu stützen.
    Er fragte sie, wofür sie ihren Orden des Roten Sterns erhalten habe, und sie verzog ihre roten, roten Lippen zu einem Lächeln, zündete sich eine Zigarette an und sagte: Das ist ein Geheimnis. Das gefiel ihm. Sie fragte ihn nach seinem Orden des Roten Sterns, und er sagte: Den habe ich mir an der Zweiten Front verdient! Wieder lächelte sie. Sie griff nach der nächsten Zigarette, und er beugte sich vor und gab ihr Feuer. Und mehr war da nicht zwischen ihnen.
    Ihr Haar war so dunkel wie das Lampenkabel vor der blassen Zeltwand.
    11
    Karmen war fröhlich und zufrieden zurückgekehrt; er hatte für Elena deutschen Tabak und für den Kommissar ein Zeiss-Fernglas mitgebracht. Außerdem hatte er auf dem Rückweg Aufnahmen von einer weiteren unbeugsamen alten Bäuerin in den Trümmern ihres Hauses
gemacht, wie sie in einer Blechform aus einem Stück Tragfläche eines deutschen Flugzeugs Brot backte. Er zog sich die Jacke aus; er hängte seine schmuddelige Persianermütze an den Haken. Dann, mit einem schon weniger selbstsicheren Lächeln, machte er einen Schritt auf sie zu. Aber Elena war so schweigsam wie ein Steppenpony.
    Es war nicht ratsam, Elenas Schweigen zu durchbrechen. Wo war sie zum Beispiel gewesen, bevor sie einander in Spanien begegnet waren? Die verschneiten Wälder ihrer Schweigsamkeit umfassten Palisaden und Wachtürme, durch die Lücken in der Stahlumzäunung blitzten Ketten und Laufstege auf. Elenas Schweigen war jedes Mal eine Warnung, schreckenerregend in seiner Beharrlichkeit, ja, Seelenruhe. Oh, ihr wunderschönes Gesicht in seiner Sanftmut, seiner ungerührten Sanftmut!
    Es war einmal, da nahm Roman Karmen, eben zurück von der Aufnahme eines Sportleraufmarsches auf dem Roten Platz – junge Frauen in Gymnastikanzügen, die riesige kyrillische Buchstaben stemmen, überragt vom Bildnis des Genossen Stalin (die weißen Schuhe der Frauen blitzten auf im Marsch; das hatte sein Objektiv eingefangen) –, seine Gattin mit zu einer Kunstausstellung in Leningrad; es war nicht die Retrospektive des Jahres 1932, denn damals hatte er Elena noch nicht gekannt; jedenfalls, eine Künstlerin, die an den Wänden viel Platz einnahm, dank der Bemühungen eines gewissen Otto Nagel, war die Frau, die er am Weißrussisch-Baltischen Bahnhof fotografiert hatte, in der Hoffnung, ihr Bild in der W semirnaja Illustrazija unterzubringen. Ach, unsere Hoffnungen! Dennoch, er bewunderte diese K. Kollwitz noch immer; sogar heute noch fand er, dass sich in ihren monumentalen Gruppenbildern neue Blickwinkel und Kameraeinstellungen finden lassen könnten. (Ein Beispiel aus dem Jahr 1965: Einer unserer Rotarmisten gibt einem kleinen russischen Mädchen zu essen, in »Der große vaterländische Krieg«, Regie: R. L. Karmen.)
    Elena war schon in eine Ecke des Raumes gegangen, in den Kunstbüchern blättern. Karmen ging ihr nach. Als er hinter ihr stand, sah er sie gelassen und wunderschön auf eine Seite blicken, auf der die Künstlerin mit den Worten zitiert wurde: Ich glaube auch, daß Bisexualität für künstlerisches Tun fast notwendige Grundlage ist.
15 Karmen verspürte einen so scharfen Schmerz, dass er kaum sprechen konnte. Elena war sich seiner Anwesenheit natürlich

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