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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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abschoss. Es sah mich nicht.
    Der alte Mann war dicht hinter mir und zog die Krücken nach. Dann war er neben mir. Dann war er vor mir. Wir krochen immer weiter. Er wurde nie müde.
    Um 22:00, als das Artilleriefeuer seine Spinnenbeine in die Nachtluft reckte, hielten wir an. Wo wir uns befanden, lässt sich nicht feststellen – zwischen der zweiten und dritten Abwehrlinie des Feindes, so meine Vermutung. Ich wollte unbedingt im Hauptquartier anrufen und unseren Lagebericht durchgeben; vielleicht hätte ihnen die Meldung sogar irgendwie nützen können. Immer wenn ich mich an der Ostfront von meinen Linien abgeschnitten fand, und das kam öfter vor, als man denken würde, beruhigte ich mich mit der Vorstellung, wie ich mit den anderen Telefonisten in einer Reihe saß, mit dem Gesicht zur Wand, so dass man von hinten nur die uniformierten Rücken und das kurzgeschorene Haar sah, alle mit einem schwarzen Telefonhörer am linken Ohr, vor sich eine Batterie schmaler Eisenregale, aus denen Kabel und Drähte rankten wie Efeu; für mich waren sie das Bewusstsein an sich; jeder Einzelne ein Gedanke, mit Kabeln an andere Gedanken angeschlossen; zusammen bildeten sie ein Gehirn, sicher unter der Erde verborgen, blind für den Feind draußen: Nichts konnte sie erschüttern. Wie alle Kinder habe ich früher die Ungeheuer unter dem Bett verjagt,
indem ich die Augen zukniff. Das mag nicht rational gewesen sein, aber besser als mit Rüdiger im Schlamm hocken und rauchen war es bestimmt.
    Der alte Mann sagte mir ins Ohr: Soll ich dir zeigen, wie du überleben kannst?
    Ich mochte ihn nicht mehr. Ich hätte lieber Volker bei mir gehabt, der immer zu einem stand und sich freiwillig zur Nachtwache meldete. Er hatte sein Leben im Gras am Rand mutterbauchiger Schützengräben zugebracht und Briefe nach Hause geschrieben, die nie ankommen sollten. Vor dieser Art Vergeblichkeit hatte ich Respekt.
    Ich strafte den Alten mit Schweigen und fing an weiterzukriechen, den Helmgurt zwischen den Zähnen, bis ich unter dem Rumpf eines ausgebrannten Tiger-Panzers Schutz fand; sein Geschützturm war doppelt so hoch wie ich. Sie nahmen uns jetzt mit ihren Panzerbüchsen unter Feuer, aber sie schossen ins Blaue. Wenn Dankwart hier gewesen wäre, hätte er mit seinem Achtundachtziger losgeballert! Der alte Mann hielt sich dicht hinter mir. Wir versteckten uns und sahen zu, wie die langen weißen Strahlen unserer Flakscheinwerfer verzweifelt das feindliche Dunkel absuchten. Als sie ihr Feuer einstellten, blieben wir in unserem Versteck, denn wie Feldwebel Dankwart immer so oberschlau sagte: Man weiß ja nie.
    Um 03:00 kam die Morgendämmerung. Wieder sagte der alte Mann: Soll ich dir zeigen, wie du überleben kannst?
    Ich mochte nicht antworten. Weit weg im Norden konnte ich ein halbes Dutzend Tiger sehen, festgenagelt von einem Rudel T-34. Plötzlich glitzerte auf ihren Geschützrohren das Sonnenlicht, und unsere Tiger eröffneten das Feuer. Sie erledigten alle T-34, und deren Granaten prallten alle an den Tigern ab. Ich wollte jubeln, aber ich traute mich nicht. Was, wenn uns die Russen hörten?
    Ich werde dich eine Weile aufhängen müssen, sagte der Krüppel.
    Jetzt weiß ich, wer du bist, sagte ich. Du bist Wotan. Nun, ich will deine Weisheit nicht. Hast du vergessen, wie Siegfried Wotan fortstößt? Ich bin Siegfried.
    Das ist nur bei Wagner so, sagte er müde. Das stimmt nicht.
    Wir krochen langsam Richtung Osten. Ich konnte ihn nicht abschütteln, ganz wie es meiner Rolle entsprach; ich hätte es nie zum Siegfried gebracht! »Zwischen den Feuern«, das war ich. Wahrlich, der perfekte
E-Film! Lisca Malbran hätte die deutsche Männlichkeit besser verkörpert als Siegfried vom Amt – wie hätte Rüdiger den Kopf über mich geschüttelt!
    Nach einer halben Stunde machten wir in einem russischen Schützenloch Rast, von der Hüfte abwärts stand der tote Russe noch darin, der Oberkörper lag auf dem zertrampelten Weizen verteilt; er stank noch nicht sehr, und das Käppi trug er über die Augen gezogen, so dass wir nicht wirklich in eine Beziehung mit ihm eintreten mussten.
    Eins weiß ich nur, das nimmer stirbt, sagte der alte Mann. Das Verderben.
19
    Ich mochte nicht antworten. Wir hielten unter unseren Helmen die Luft an und machten, dass wir weiterkamen.
    Im nächsten Schützengraben lag einer unserer eigenen Gefallenen, eine Nachrichtenausrüstung neben sich! Ich wollte meiner Verzweiflung entfliehen und versuchte, am schlammverkrusteten

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