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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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Telefon mit FREYA zu sprechen, aber natürlich hatte der Feind das Kabel gekappt.
    Ich wusste nur zu gut, was der Krüppel von mir erwartete. Er wollte mich in Angst und Schrecken, schwebend zwischen den Zonen, halten, bis ich gewachsen wäre. Aber ich war entschlossen, mich nicht zu wandeln; ich hätte meinem eigenen Leid untreu werden müssen.
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    Lassen Sie mich das weiter ausführen: Durchhalten ist ewiglich richtig, selbst wenn es die Gegenpartei erzürnt. Aus den Märchen, die Oma Elsa mir früher erzählt hat, weiß ich noch, dass man dem Ratschlag des Fuchses, des Fisches, Schlafwandlers, Raben, Telefons, zerzausten Zwerges immer ganz genau folgen muss; und wenn dieser Ratschlag sich als Unsinn verkleidet, ist er nur umso wertvoller: Wenn man das Goldene Pferd stehlen will, muss man ihm das abgenutzte Zaumzeug anlegen, nicht das juwelenbesetzte Geschirr am Haken daneben. Wenn man die Goldene Prinzessin entführen will und sie einem anbietet, freiwillig mitzukommen, wenn sie sich nur von ihren Eltern verabschieden darf, muss man ihr genau das verbieten. Bleibe hart; lass sie weinen! Mit anderen Worten, belohnt wird nur, wer treu und blind gehorcht.
    Nun, ich bin immer bereit gewesen, mich zu unterwerfen, besonders
Frauen. In meinen schwächeren Augenblicken jedoch, noch weiter geschwächt durch Rüdigers verräterische Andeutungen, dämmerte mir langsam, dass der blinde Gehorsam, »Kadavergehorsam« nannten wir ihn, uns Moskau und Stalingrad gekostet hatte; Leningrad hatte er uns noch immer nicht eingebracht; auch vom Unternehmen Zitadelle ließ sich nicht sagen, es mache schöne Fortschritte. Kurz, der Glaube an den Schlafwandler war mir erstorben. Sein Glaube aber erstarb nicht! Er hielt die Schaltstelle Europa im Schlaf zusammen! Ohne ihn hätte FREYA sich selbst mit einem Kurzschluss erledigt. Mein Feldtelefon spuckte verschlüsseltes Klackern aus, das von einem neuen bevorstehenden Sieg kündete: Er würde den Feind zum Rückzug zwingen …
    Es war einmal, da warnten ihn Fremde Heere Ost, dass die Russen jeden Monat siebenhundert neue Panzer gegen uns in Stellung brachten, und der Schlafwandler erwiderte: Der Russe ist tot!
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    Was, wenn das Wort allein es wahr machen konnte? Was, wenn die 6. Armee in Stalingrad zu opfern dasselbe war wie das Goldene Pferd mit verschlissenem Leder zu satteln? Was, wenn wir mit dem Unternehmen Zitadelle die Goldene Prinzessin erringen würden, aber nur, indem wir uns selbst opferten?
    Wenn die vier Dutzend Mohren in Ketten auftauchen, darfst du nicht antworten, wenn sie dich fragen, wer du bist. Du musst ihnen erst erlauben, dich zu schlagen und dir den Kopf abzuhacken. Wenn sich die T-34 um dich zusammenziehen, musst du ihnen ganz unbewegt begegnen. Keinen Zentimeter darfst du zurückweichen! Wenn du diese Befehle genau befolgst, dann wird die sprechende Schlange sich wieder in eine Prinzessin verwandeln, die du zur Braut nehmen kannst, und du wirst im Goldenen Schloss der König.
    Ich wünschte, ich könnte die Goldene Prinzessin heiraten, dachte ich, und es zeigte sich, dass ich es laut gesagt hatte.
    Der alte Mann erwiderte: Das sind deine ersten vernünftigen Worte.
    Schade, dass es keine Goldene Prinzessin gibt.
    Es gibt sie sehr wohl.
    Oben auf der Siegessäule in Berlin vielleicht …
    Nein, direkt vor dir, gleich hinter dem 38. Direktorat für Verteidigungsbaumaßnahmen! Aber die Russen werden es dir nicht leichtmachen. Die mögen dich nicht.
    Nun, dazu haben sie auch allen Grund, sagte ich. Aber ihr Land zu
verlieren war ihnen vorherbestimmt. Das ist der Wille der Weltgeschichte. Sie sollten uns jetzt lieber haben, denn was sie einst besaßen, kommt nicht wieder.
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    Dann zeige ihnen den Willen der Weltgeschichte! Oder jagen ein paar Slawen dir Angst ein?
    Was sollte ich dazu sagen? Wie gesagt, ich bin nur Telefonist. Dass ich eher von der ängstlichen Sorte bin, will ich gerne zugeben. Früher, bevor Lina mich verlassen hatte (oder ich sie, ich weiß nicht mehr, wer zuerst ging), saßen wir gern auf einer Bank am Landwehrkanal, und im September knallten die Eicheln auf den Boden wie Pistolenschüsse; manchmal prallten sie von den Lehnen der Bänke neben uns ab; ich will gern gestehen, dass ich Angst hatte; einer ihrer Gründe, mich zu verlassen, war, dass sie einen Helden wollte, und ich erinnerte sie an einen Juden.
    Was also sagte ich? – Ich kämpfe weiter!, rief ich.
    Ein Russe ohne Kopf, vor Würmern wimmelnd, brach aus seinem Grab hervor und stürmte

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