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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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Ich bin bloß ein Telefonist.
    Nun, du wirst doch aus einem Grund hierhergekommen sein.
    Das habe ich zu Rüdiger auch immer gesagt.
    Aus dessen Augen habe ich Suppe gekocht. Und jetzt bist du hier.
    Ich sagte ihr etwas auf, das ich irgendwo aufgeschnappt hatte: Deutsch sein heißt, eine Sache um ihrer selbst willen tun.
    Sie stand von ihrem Webstuhl auf, watschelte an ihren Herd und rührte mit einer Kelle aus einer Fliegerbrille ihre brodelnde schwarze Brühe um. Oh, wie Rüdiger den Kopf geschüttelt hätte! Ich dagegen hatte einfach nur Angst. Wie gewöhnlich.
    Die ganze Zeit schon bist du hinter dem Geheimnis des Lebens her, sagte die Hexe. Nun, das wirst du hier nicht finden. Aber ich habe etwas Wichtigeres für dich – das Geheimnis des Todes.
    Ich gestehe, dass ihr Angebot eine Sekunde lang eine Versuchung für mich war. Man muss dem Dunkel ins Gesicht sehen, das sagen alle; deshalb hatten wir ja überhaupt im Osten angreifen müssen! Und wenn mir das Geheimnis des Todes gehörte, hätte ich das Unternehmen Zitadelle ganz allein zu Ende bringen können, mit Hilfe dessen, was von Manstein eine klare Schwerpunktbildung an der entscheidenden Stelle nennt.
22 Dann würde FREYA mich lieben. Aber was, wenn ich nicht mehr
derselbe war, sobald ich das Geheimnis kannte? Ich war entschlossen, derselbe zu bleiben. Um es gleich ganz klar zu sagen, ich war nicht aus eigenem Antrieb hier. Ich war nur ein Telefonist.
    Vergib mir, sagte ich, aber ich habe Angst vor dem Tod. Und nicht einmal das Geheimnis des Lebens hätte ich von dir angenommen. Wie kann Wissen etwas anderes sein als der Tod?
    Das wird dir noch leidtun!, erwiderte sie. Ich glaube, sie fühlte sich abgelehnt.
    Das Abgelehnte wird an einem anderen Ort ans Licht kommen. Hat mein Psychotherapeut immer gesagt. Ich weiß, ich weiß. Und ich hatte keine Munition mehr.
    11
    Also hatte ich mich dem Wissen verweigert. Auf zum Endsieg!
    Aber eigentlich sehnte ich mich danach, wieder am großen schwarzen Telefon der Schaltstelle Europa zu hängen, wo das wahre Wissen Wohnung hatte, Wissen, das leblos war und den Tod nicht kannte. Ich war ausgebildet worden, mich ganz ins Telefon hineinzudenken, aufzublicken zur Unterseite des schwarzen Bakelitnapfs, zu den Sternbildern der Impulse und Anschlüsse, hell wie die Funken an den Speerspitzen der Walküren. Da würde ich Führung finden; da würde ich dann wissen, wohin gehen und was tun.
    Oh, wie einsam ich war, wie einsam! Ich irrte umher wie ein brennender Panzer, der blind durch die Gegend röhrt, bis er über eine Mine stolpert und dahin ist; ich versuchte, mich neu aufzustellen und zu verstärken, aber es war aussichtslos. Und immer war der Himmel dunkel. Rund um mich herum strömten die T-34 endlos allen operativen Zielen entgegen. Und FREYA hatte mich verlassen! FREYA war Lina, die mir von nun an LINA sein sollte. Genauer gesagt, FREYA und LINA waren Schwestern. Das hätte mir früher klar werden sollen. Es gibt Dinge, die wir erst sehen, wenn es zu spät ist. Die Attacke der Roten auf das XXIII . Panzerkorps hielt zum Beispiel die Division »Großdeutschland« davon ab, sich am Angriff auf Kursk zu beteiligen.
23 Wer weiß? Wenn »Großdeutschland« dabei gewesen wäre, hätte das Unternehmen Zitadelle gelingen können. Wenn LINA mich geliebt hätte, was hätte ich dann für Möglichkeiten gehabt? – FREYA und LINA waren beide so
schön wie die Batzen aus geschmolzenem Metall, die manchmal von einem brennenden Flugzeug ausgespien wurden.
    In einem Sonnenblumenfeld hing eine Feuerwolke so träge über einem toten Tiger wie ein Schwarm Fliegen. Dann kamen wild im Schlamm verteilte geborstene Panzerungen, brezelförmige Schützengräben im versengten Sand, Zwillingsdraht, der in einem Schädel zuckte, eine endlose Induktionsspule in einer Augenhöhle: genug Material für mich, endlich FREYA anzurufen!
    Ich nannte das Passwort; deshalb ließ sie sich von mir berühren. Dann funkte ich: Wogegen muss ich mich wappnen?
    16. Sowjetische Luftflotte … sagte FREYA . Ihre Stimme war heiß und kalt zugleich, wie es dem Gold auf so spektakuläre Weise eigen ist.
    Bunker und Mörserstellungen  … fügte LINA hinzu. Sie hatte ich am meisten geliebt. Aber jetzt war es meine Pflicht, die Goldene Prinzessin zu erringen.
    Und dann gingen sie mir beide verloren; man hatte mich um den einen endlosen Augenblick betrogen, den die Radierungen der Käthe Kollwitz romantisiert hatten: Eine Frau sagt dem Soldatensohn Adieu.
    12
    Tiefer

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