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Warschau ausradiert; warum die Stadt den Slawen überlassen? Prag hatten wir zur Sprengung vorbereitet, aber leider fiel es zu schnell.
Hagen, altertümlicher Hogni genannt, war von Anfang an gegen den Angriff auf Russland gewesen. Aber er war zu edel, seine Mitschuld zu verheimlichen. Für mich ist er so tapfer und vorausschauend wie Rommel. Er sagte: So lasst mich wieder der Schuldige sein!
Das gefiel dem Schlafwandler, und wie! Und so wurde Hagen als militärisch unabkömmlich eingestuft (ich habe seinen Ausweis in der Hand gehalten und die vielen Hakenkreuze und Adler darauf gezählt) – dabei ließ man ihn in Krisenzeiten in der Wolfsschanze nicht einmal bis zum Wachtposten von Sperrkreis 2 vor. Da sieht man, was das Oberkommando von ihm hielt. Ein Geringerer wäre vielleicht beleidigt gewesen, Hagen jedoch blieb immer realistisch. Mir sagte er: Ich kenne meine Aufgabe, und ich nehme sie an. Jetzt wollen wir uns im Goldenen Hufeisen betrinken. Himmler sagt, die Animierdame sei die letzte Negerin in Berlin …
Er betrank sich; ich nicht. Ich sah, wie ihm eine einsame Träne über die Wange rann.
Im ersten Winter des Unternehmens Barbarossa, als Moskau unbezwungen war und unsere Soldaten zu Tausenden erfroren, ging ich mit Hagen auf ein Bier ins Kranzler. Der Laden war beinahe leer, und Kaffee gab es auch nicht. Hagen flüsterte mir zu, die zwanzig Prozent Kriegszuschlag auf Alkohol könnten bald erhöht werden; er würde natürlich die Schuld auf sich nehmen.
Das Zigarettenmädchen sah müde aus und flickte langsam die Polster der am schlimmsten ramponierten Stühle mit Paketschnur. Deut
sche Schnur hielt nicht mehr gut und bestand nur noch aus geflochtenem Papier; aber man bekam noch Pakete aus der Schweiz, die wurden ausgeweidet.
2 Das Zigarettenmädchen schimpfte auf die jüdischen Kaufleute, denen wir diese erschütternde Kriegswende zu verdanken hätten. Hagen zwinkerte mir zu und sagte: Alles meine Schuld. Ich bin der König der Juden.
Sie haute ihm eine runter.
Hagen lachte und hielt ihr die andere Wange hin. Im Winkel seines blutunterlaufenen Auges wuchs eine einsame Träne.
Am 12.12.42, als der Schlafwandler sagte: Wir dürfen unter keinen Umständen Stalingrad aufgeben. Es wiedergewinnen werden wir nicht mehr!, schwieg Hagen still, sagte mir aber im Nachhinein: Glauben Sie ja nicht, dass ich das Ende nicht kommen sehe.
3 Ich weiß, was uns erwartet – Er sah es wirklich kommen. Aber er wankte nie. Ist das nicht eine Tugend?
Am 19.7.43, als wir das Unternehmen Zitadelle verloren gaben, schickte der Schlafwandler telefonisch nach Hagen. Ich befand mich ganz am anderen Ende der Marmorgalerie, als er den Hörer auf die Gabel warf, aber es knallte wie ein Pistolenschuss, also kam ich herbeigelaufen. Dann sah ich seinen Gesichtsausdruck. Er hätte ein-Mann sein können, der mit dem MG eine Lastwagenladung russische Infanterie niedermähte, aus Rache für die Einkesselungen, Tiefflieger, Partisanen, die selbstmörderischen Sturmangriffe, Winter, Nebel, die Sümpfe der Ostfront. Er ertappte mich dabei, wie ich ihn anblickte, und rief: Wegtreten! Ich schlug die Hacken zusammen, salutierte und marschierte ab bis ins Wartezimmer, wo ich noch immer in Rufweite war, falls er mich brauchen sollte. Wieder ein Krachen! Er versuchte, das Telefon bis unter die Erde zu schlagen. Aber da kam Hagen, makellos, voller Ironie, zu allem bereit. Er hätte General sein müssen, aber er war nur ein Oberst. Er zwinkerte mir zu, als ich die Tür öffnete, um ihn anzumelden. Ich hatte sie noch nicht wieder geschlossen, da hörte ich schon Geschrei und splitterndes Glas. Als Hagen wieder zum Vorschein kam, sah er aus, als hätte er in einem Frontlazarett zu viel Blut gespendet. Er seufzte: Ich brauche ein bisschen Pervitin zum Aufputschen …
Wir gingen uns im Ufa-Palast eine Wochenschau ansehen. Der Bericht war veraltet; ein Sieg nach dem anderen. Das Publikum war nur
wegen des Spielfilms da: Lisca Malbran in »Junge Herzen«. Man kann sie sich vorstellen: uralte Damen, Beinamputierte und ein paar blasse Fabrikarbeiter – aber ich sollte auch den einsamen, strahlenden kleinen Jungen in der Hitler-Jugend-Uniform erwähnen; Sieg Heil! , rief er bei jeder Bombe, die fiel. – Mein Nachfolger, witzelte Hagen.
Wir spazierten durch die Wilhelmstraße und zählten die zerbrochenen Fenster; wir schlenderten an den mit Brettern vernagelten Schaufenstern an der Potsdamer Straße vorbei, und da lachte er wütend: Wir dürfen
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