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Schenkel einer Frau. Dies war der intimste Augenblick, den die beiden jemals gemeinsam erleben würden (es wäre denn, aus dem einen Prozent würde einhundert und sie nahm ihn, für immer). Wenn sie wirklich in dem Buch zu lesen begann, würde er nicht an ihrer Seite sein; aber weil sie so oft miteinander sprachen, war er sich sicher, immer über ihre Lesefortschritte auf dem Laufenden zu bleiben. Sie versprach, noch am selben Abend anzufangen, wenn sie mit dem anderen Mann zu Hause war, und das bedeutete, dass sie mindestens die Grenze des Halbtitelblattes überschreiten würde, gefolgt von den dramatischen doppelten Pflanzenstängeln (mit einem Blatt verbunden) des Initials. Und nun sah er, wie sich vor ihr die weiten weißen Seitenränder erstreckten und der großzügig bemessene Abstand zwischen den Zeilen, der jedes Wort ermutigte, sich herauszuputzen wie der Schatz, der es wahrhaftig auch war.
Ich sollte erwähnen, dass dieser wunderschöne Band, der einem so gut in der Hand lag, seine Erzählung mit schwindelerregender Plötzlichkeit begann, als wäre der Leser eben aus einem dunklen Tunnel in eine neue Welt gestoßen worden, eine vollkommene Welt, der Boden eine heiße weiße Ebene aus Salz, auf der die Worte ewig lebten.
Über die Handlung (es handelt sich um die Geschichte eines Liebeswahns), die sich verschlungen aufbaute wie die ineinander verschachtelten Stufen eines mit Buddha-Statuen besetzten Turms, der sich vollendet bis ins Nichts verjüngt, muss hier nichts gesagt werden. Einmal habe ich ein bestimmtes Wat in Bangkok besucht, wo ich, obwohl der Tag anstrengend heiß und das Licht grell war, mich plötzlich wie verzaubert in der Empfindung wiederfand, eine Hochebene im Nebel zu durchwandern, umgeben von kunstvoll verwitterten Klippen. Es gab Türme ohne Zahl, so wie es im Diesseits viele vollendete Bücher gibt.
Dieses Buch, nun, vielleicht kann man nicht sagen, dass es alles enthielt, aber eine weiße Mauer war darin, mit Fresken aus maskierten Ge
stalten, Dämonen und tanzenden Mädchen mit nackten Brüsten, alle in geschuppten goldenen Rüstungen. Diese Gestalten, die vermutlich die verschiedenen Arten des Lebens darstellten, wie sie zur Zeit des Verfassers in Mode waren, erlebten natürlich seltsame Abenteuer, und ihre Kapitel sind öfter analysiert worden als alle anderen des Buches, denn ihre Begegnungen mit Räuberhauptmännern im Urwald, ihre Gespräche mit dem Himmelsprinzen und ihre gefährlichen Tauchgänge im Meer auf der Suche nach der Einen Perle lassen es weder an Schönheit noch an philosophischer Tiefe mangeln, aber diese Figuren blieben die zweidimensionalen Bewohner von Parabeln – allgemeingültige Schatten, das schon, aber ohne Eigenleben, gefangen auf dieser weißen Mauer (in Wahrheit eine weiße Doppelseite). Wenn sie dem Rechten Weg folgten, waren ihnen Liebe, Macht und Reichtümer sicher, aber alles Glück, das sie erleben konnten, war auf einem Unwissen gegründet, das ihnen ihr Autor gnädig eingeträufelt hatte: Sie wussten nicht, dass sie nicht wirklich waren und dass ihre leuchtenden, flächigen Bemühungen (die man sich vorstellen mag wie Zeichentrickfilme mit ausgeschnittenen Matisse-Figuren) in der wirklichen Welt, wo die wahren Formen von Liebe, Macht und Reichtum ewig galten, niemals von Erfolg gekrönt sein könnten; denn über die Träume, die sie lebten, würde allein die Heldin des Buches hinausgehen können, deren übernatürliche Vollkommenheit sich im fünften Kapitel zu erweisen begann. Im Augenblick konnte er es kaum erwarten, dass sie bis zum zweiten Kapitel kam, dessen Worte, so hatte er in einem der alten Kommentare gelesen, syntaktisch und typografisch so gestaltet worden waren, dass sie herzfömige Seerosenblätter in einer riesigen Vase vor einer goldenen Wand nachbildeten. Wo zwischen den Seerosenblättern in kompliziertem Muster der Wasserspiegel durchschimmerte, würde sie unmittelbar in jene Zone der Reinheit blicken können, auf die man die Zeilen der Druckschrift so gleichmäßig gesetzt hatte. Er wusste sehr wohl, dass jeder Satz, den sie las, sie dem Augenblick näher brachte, da sie das Buch ausgelesen haben würde, dem Augenblick, in dem das heftigste sich Verzittern des Orgasmus sich in die Länge zieht, ausklingt und zur Erinnerung wird; aber selbst das konnte er akzeptieren; leidenschaftlich drängte es ihn, ihr von Kapitel zu Kapitel nachzusteigen wie ein Liebhaber, der sich hastig die Kleider abstreift und lachend versucht,
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