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Stalingrad unter keinen Umständen aufgeben . Ich verspürte kein Bedürfnis, ihn zu fragen, wo das alles enden sollte.
Ich schlief inzwischen mit dem Zigarettenmädchen vom Kranzler. Sie hatte nicht einmal genug Bezugsscheine für einen neuen Hüfthalter. Als sie ausgebombt worden war, beging ich den Fehler, Hagen um Rat zu fragen, wo wir hinziehen könnten. Er sagte: In der Krypta gibt es noch ein paar Zinnsärge.
Sie dürfen nicht glauben, dass ich ihm böse war. Am Ende war er doch der beste Freund, den ich je hatte. Er hat mich nie belogen oder die Schuld anderen in die Schuhe geschoben.
Mein Zigarettenmädchen musste jetzt in einer Rüstungsfabrik arbeiten, wo jede neue Patrone noch ein Kupferdach trug wie der Berliner Dom, aber das Kupfer wurde knapp, was alles Hagens Schuld war. Dann warfen die Briten eine Bombe ab, zehn Minuten vor dem Ende ihrer Schicht. Nicht einmal ein Fetzen ihres Kleides blieb mir, an dem ich mich festhalten konnte.
Zur Ablenkung nahm Hagen mich mit zu den Bayreuther Festspielen, in die »Götterdämmerung«. Im dritten Aufzug, als Gunther sang: Nicht klage wider mich! Dort klage wider Hagen. Er ist der verfluchte Eber, der diesen Edlen zerfleischt! ,
4 lachte Hagen laut auf, dann weinte er wieder. Weil er in Uniform war, wagte ich nicht, ihn zu bitten, leise zu sein. Ich blickte zur Privatloge des Schlafwandlers hinauf, aber der Vorhang war zugezogen. Manchmal ist es besser, nichts zu wissen.
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Da kommt Hagen durch das Brandenburger Tor; eine lange Reihe verängstigter Frauen und Kinder führt er an. Die Schlacht um Berlin ist eben vorbei. Einhunderttausend Zivilisten sind umgekommen, heißt es.
Die Überlebenden kehren heim. Eine Frau eilt nach Westberlin und hält sich den Mantel ohne Knöpfe zusammen. Eine andere Frau, eine dunkelhaarige Schönheit, hält ihr Kind an der Hand, ihr Gesicht vor Schrecken ausdruckslos. Hagen springt auf einen Trümmerberg und ruft zu ihnen herab: Ich war es! Ich habe Berlin verloren!
Sie werfen mit Steinen nach ihm. Aber Hagen ist unverwundbar, wie Judas. Seine Schuld ist sein stählerner Panzer.
Ich sehe Hagen in Nürnberg – natürlich. Wie hätte er nicht dort sein können? Er gehört zu den Hauptangeklagten! Vielleicht hätten sie ihn laufen lassen, weil er nur Oberst war, aber er behauptet fest, in Wirklichkeit General gewesen zu sein.
Nie werde ich Richter Jacksons Gesichtsausdruck vergessen, als Hagen aufstand, den Blick starr geradeaus, und kalt feststellte: Die Rolle der Deutschen in Europa, unsere Pflicht an sich ist es, für alles die Schuld auf uns zu nehmen. Wir begehen Verbrechen, damit ihr anderen euch rein fühlen könnt.
Am 1.10.46 wurde er in allen Anklagepunkten für schuldig befunden. General Nikitschenko fügte hinzu: Im Laufe des Verfahrens hat er zahlreiche Eingeständnisse seiner Mitverantwortlichkeit gemacht. Es kann kein mildernder Umstand angeführt werden.
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Da saß er, in der allerersten Reihe, unter den schlimmsten dieser Kriegsverbrecher, manche von ihnen in Uniform, andere im Anzug; mit wie unter der Last der Kopfhörer gesenkten Köpfen und geschlossenen Augen warteten sie, dass das Urteil über sie gesprochen wurde. Es geschah in alphabetischer Reihenfolge. Kurz bevor sie an die Reihe kamen, öffneten die Angeklagten die Augen, setzten sich aufrecht hin und wappneten sich, mit Blick auf die Richterbank. Aber als das Gericht Hagen aufforderte, sich zu erheben, strahlte er so hell wie die Scheinwerfer des Metropol an jenem Abend, den ich nie vergessen werde, als die Artistinnen Margot und Heidi Hoffner nackt miteinander tanzten und wir alle, die wir ihnen zusahen, das Gefühl hatten, in ein Geheimnis tief in der Umhüllung durch die Kriegsverdunklung eingeweiht worden zu sein.
Angeklagter Hagen, sagte der Vorsitzende, gemäß den Punkten der Anklageschrift, unter welchen Sie schuldig befunden wurden, verurteilt Sie der Internationale Militärgerichtshof zum Tode durch den Strang.
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Das war mir klar, sagte Hagen.
Am letzten Nachmittag kam der Gefängnispsychiater, um sich Notizen über seine Gefühle zu machen. Hagen sagte ihm: Meine Gefühle lassen sich in einem Wort zusammenfassen: Déjà-vu .
Dr. Gilbert notierte sich die Antwort. Er wirkte verärgert.
Alles meine Schuld, gähnte Hagen und blies einen Rauchring. Ich habe die ganzen Juden umgebracht. Den heutigen Tag habe ich auch kommen sehen. Ich habe schon 1929 alles vorhergesehen.
Können Sie sich noch an die Fragebögen erinnern, die ich Ihnen
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