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schneller zu sein als die Eine, die er liebt und die sich, wie sie da
in dem kleinen weißen Zimmer vor ihm steht, schon fast ganz ausgezogen hat.
In jener Woche träumte er sich weniger oft hinein in jenen Ort der inselgleichen weißen Häuser, der, wenn man ihn aus einem Flugzeug betrachtete wie ein Leser im Segelflug über einem offenen Buch, fast blaugrün aussah, mit dem gelegentlichen hellgelben Rechteck eines Senffeldes und kühlen Flüssen, die sich durch das flache Land wanden und an deren satt mit Gras bewachsenen Ufern immer wieder auch ein Baum stand. Wo die Wiesen am grünsten leuchteten, da färbte sich manchmal auch einer der Flüsse grün, aber da, wo das Grün so satt war, dass es fast schwarz wirkte, behielt der Fluss seine lapislazuligraue Natur; und genau dort erhob sich im Birnengarten der Turm des schmalen weißen Hauses mit seinen Fenstern, die über den Deich blickten. Jetzt war das Haus verlassen. Aber das machte ihm keine Sorgen; er wusste, wo sie war. Sie war in dem weißen Buch. Und solange sie dort Wohnung nahm, war sie bei ihm. Er war in Ekstase.
(Er schickte ihr ein Telegramm, weil er wissen wollte, ob sie schon beim Seerosenblätter-Kapitel angelangt war, und sie sagte ja; sie hatte alles verstanden; und obwohl sie beschäftigt war, rief sie ihn sofort zurück, ganz lieb, und unterhielt sich fast eine halbe Stunde lang mit ihm, und am Ende bat er sie um ein Foto von sich und sie sagte: Nein.)
Das Buch, in das er eingetreten war – nun lebte auch sie darin. Nun gehörte es ihr, jetzt und in alle Ewigkeit.
Seine Liebe war mit totaler Kontrolle gesegnet. Er wusste, dass er weder ihr noch dem anderen Mann je würde wehtun können. Er konnte leben, ohne etwas zu fordern. Er liebte sie so sehr, dass er sie mit Leichtigkeit aufgeben konnte, wenn sie das von ihm verlangte. Seine Liebe war viel vollkommener als er selbst. Wir könnten sagen, sie speiste sich aus der gleichen Vollkommenheit wie jenes weiße Buch, dessen zweidimensionale Tänzerinnen (die nur ins Leben gerufen worden waren, um die Ganzheit der Heldin zu unterstreichen) goldene Kronen trugen, die in gerippte, pailettenbesetzte Stacheln ausliefen. Sie vollführten mit den Handgelenken langsame schwimmende Bewegungen, während ihre Anhänger vor den Räucherspiralen und Blumengestecken knieten. Und nun wand sich im fünften Kapitel die Frau mit den nackten Schenkeln, die vom Titelblatt, aus dem Initialheraus und begann, die anderen Figuren zu überschatten, die wirklich nicht viel mehr waren als
glitzerndes Stückwerk, der Abglanz von Gesichtern in goldenen Kacheln.
Sie las gerade das fünfte Kapitel. Er konnte sich so gut daran erinnern. Er hatte es an einem Sommernachmittag gelesen, auf ganz ähnliche Weise, wie er ihr nun so tief ins Gesicht blickte und von dessen unerschöpflicher Helligkeit trank, während sie seinen Blick sanft erwiderte und er nicht anders konnte, als sie anzulächeln vor Glück, und sie erwiderte sein Lächeln und fuhr mit den schmalen Fingern am Kaffeeglas auf und ab. Das Glück zu wissen, dass sie sich jetzt in diesem ganz bestimmten Raum mit den goldenen Kacheln befand, wo auch er einmal gewesen war und wohin er zurückkehren konnte, wann immer er wollte, dieses Glück war so heftig, dass er sterben wollte. Alle Qualen waren verflogen.
Und nun nahm diese Hauptfigur, diese Heldin des Buches, von jemandem ein edles Phuang - malai entgegen; es bestand aus zwei Lavendelbändern, jedes voller weißer Knospen, grüner Knospen und noch mehr weißer Knospen, die dann zum aufgerichteten Gefäß einer geöffneten Rose verschmolzen; dann führte eine weiße Bananenblüte von der Größe eines Apfels den Blick über die Grenzlinie zum Spiegelbild, der gesenkten Rose, zwei weiteren Bändern aus duftendem weißen Jasmin, beide mit Quasten aus Bananenblütenblättern. Das war die entscheidende Szene. Die sie in diesem Augenblick las. Und in Ekstase wusste er, dass ihr mit ihrer vollkommenen Intelligenz jetzt klar war, dass sie die Frau in dem Buch war, bis in die kleinste visuelle Feinheit, das kleinste typografische Atom, bis hin zum letzten Buchstaben, der sie in ihrer ganzen Eigenart abbildete und verehrte.
2
Unternehmen Hagen
»Da sagte Gunther: ›Sie ist meine Schwester. Ich habe geschworen, ihr nicht weh zu tun. Daran will ich mich halten!‹ – ›So lasst mich wieder der Schuldige sein!‹, entgegnete Hagen.«
– Nibelungenlied, ca. 1200
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1
Einen Straßenzug nach dem anderen haben wir in
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