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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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fing er an, sich darin zu üben, kurz wegzublicken, während er noch bei ihr war, ein Versuch, vor dem inneren Auge zu bewahren, was er eben gesehen hatte (ihr blasses, ernstes, weiches und schmales Gesicht, ach, ihr dunkles Haar, ihr dunkles Haar), bis er unter ungeheuren Anstrengungen langsam lernte, Teile ihres Abbildes zu bewahren, auch wenn dieses Abbild notwendigerweise durch seine eigene Fehlbarkeit zu dem grobkörnigen, ausgeblichenen Foto einer schönen Hofdame aus vergangener Zeit aufgeweicht wurde, das Haar eine feste schwarze Masse, aufgelockert nur von Streifen aus Sonnenlicht, so scharf wie die Zinken eines Kamms, das handgefärbte Kostüm ganz reizend ausgeblichen, der Blick aus den sanften traurigen Augen ging durch ihn hindurch, das ganze Bild lag wie von Spinnweben überzogen unter einem halb transparenten Blatt Reispapier, dessen weiße Fasern sich in dem gelackten Raum zwischen ihr und ihm wie herrliche Würmer wanden; mit anderen Worten: Sie blieb auf ewig andernorts.
    Aber nein, das soll nicht heißen, dass sie nicht gegenwärtig gewesen wäre, ihn nicht ruhig über den Tisch hinweg angeblickt und mit ihm gesprochen oder ihm zugehört hätte. Er war ihr wichtig (und ich muss noch einmal betonen, dass sie ganz und gar nicht unnahbar war; was sie für ihn empfand, war mehr als Mitleid). Er hoffte und malte sich aus, dass sie ihn liebte; wenn er sich doch nur hätte sicher sein können,
dann wäre er fröhlich den langen Weg der Träume, Verzweiflung und falschen Hoffnungen weitergegangen.
    Natürlich bewahrte er alles auf, was sie ihm je geschenkt hatte. Sie hatten einander Bücher geschenkt. Einmal hatte er ihr ein paar seiner Bücher geliehen; natürlich hätte er ihr nur zu gern erlaubt, sie zu behalten, aber er fürchtete, das wäre ihr vielleicht nicht recht, denn möglicherweise war ihr nicht wohl dabei, Dinge anzunehmen, die ihm am Herzen lagen, denn das hätte ihn ihrer beraubt (was ihm egal gewesen wäre) oder ihn ungebührlich ermutigt (was ihm nur allzu lieb gewesen wäre). Manchmal konnte er ihr sogar auf still-höfliche Weise Dinge schenken, die ihm am Herzen lagen, aber das grenzte an Unehrlichkeit, und er wollte nicht unaufrichtig zu ihr sein. Warum kaufte er ihr dann nicht druckfrische Exemplare dieser Bücher, und damit hatte es sich? Manche waren vergriffen, vor allem aber wollte er sie nicht mit einer Flut von Geschenken überfordern. Sie wusste, wie sehr er sie liebte. Zuerst hatte sie es nicht glauben wollen, aber nun tat sie es (vermutete er wenigstens; sie sagte ihm, dass sie es nicht glauben könne, aber er nahm an, sie müsse das sagen, um ihn nicht zu ermutigen). War das nicht genug? Also lieh er ihr Bücher. Schließlich gehört es zu den größten Freuden des Lebens, ein Buch von vollendeter Schönheit zu lesen; noch größere Freude macht es, dieses Buch zum zweiten Mal zu lesen; die größte aller Freuden ist, es dem geliebten Menschen zu leihen: Jetzt liest sie die Szene mit den Spiegeln oder hat es eben getan; sie, die Liebreizende, trinkt von dem Liebreiz, den ich genossen habe.
    Unter den anderen grauen, roten, grünlichen, schwarzen und orangenen Bänden verschiedener Größe war das Ebenmaß dieses weißen Buches mit seinen schwarzen Lettern geradezu perfekt; es war weder protzig noch unscheinbar. Es war eines seiner Lieblingsbücher (sein absolutes Lieblingsbuch können wir es nicht nennen, da sein Leben noch nicht vorüber war). Er sprach davon, und sie war bereit, es anzunehmen; sie war so nett, das Buch zu lesen, das ihm wichtig war.
    In dem Augenblick, als es tatsächlich in ihre Hände überging, saßen sie einander in einem der drei oder vier Restaurants gegenüber, in denen sie sich gewöhnlich trafen; und sie, die ihm mit ihrem üblichen Übermaß an klugem Ernst in die Augen geblickt hatte, besah sich das Buch, das sie jetzt mit dem gleichen fröhlichen Besitzerstolz betrachtete, den er sich von ihr gewünscht hätte, wenn sie seinen Körper betrach
tete, bevor sie miteinander schliefen, was sie nie im Leben tun würde, egal wie lange ihrer beider Leben währen würden, und das machte, dass er einen Laut ausstoßen wollte, weicher und bleierner als jeder Schrei; und dann, nah genug, ihre wunderschönen Hände zu berühren, die er nicht berühren durfte, sah er zu, wie sie das Buch aufschlug und das Titelblatt betrachtete, mit der halb kalligrafischen Darstellung einer buddhistischen Phuang - malai -Girlande, aus Jasminblüten vermutlich, um den nackten

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