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Europe Central

Europe Central

Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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wie der Genosse Stalin die feuchtglänzenden Galerien des Kremls abschritt und alles in unserem großen Sowjetland schützte und bewachte. (Ich war nicht dabei, aber Roman Karmen hat es gefilmt. Ich habe all seine Filme gesehen.) Manchmal gesellte sich der Genosse Woroschilow zu ihm, mit riesigen Sternen auf den Epauletten. Sie blickten hinab auf all die sauberen kühlen Fabriken und Wohnblöcke Moskaus, immer wachsam, gefasst und entschlossen. Nun marschierte die Kolonne faschistischer Gefangener auf sie zu.
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    Tausende von Kilometern legten wir zurück, manchmal in Eisenbahnwaggons ohne Fenster, den Rest zu Fuß. Die meisten unter uns wussten noch, wie es zuerst gewesen war, als die Iwans und Nataschas vor unseren Panzern her humpelten, ihren Besitz auf den Rücken geschallt. Ihr dürft nie vergessen, wer die Herren sind!, hatte der Schlafwandler gesagt, und Feldmarschall von Manstein war lächelnd und wachsam neben uns her marschiert, die Hände in den Taschen. Aber all unsere Siege fielen in den Rhein, obwohl unsere Pioniere alle Häuser sprengten, die noch standen. Wir schlüpften in den Westen, dann wieder in den Osten! Von Manstein kniff jetzt bei seinem Prozess die Augen zusammen und reckte den Hals …
    Daheim in Deutschland, wo der Nebel sich wie silbriger Schleim auf die Weiden, Kastanien und Ahornbäume legt, in zu weiter Ferne, um es sich vorstellen zu können, prostituierten sich unsere Schwestern für ein Stück Schokolade oder Kaugummi. Der Schlafwandler war verschwunden – in den Berg gegangen, wie es hieß –, also waren wir enthauptet, wie das Standbild des Mars im Zeughaus (ein Volltreffer aus einem russischen Geschütz hatte ihn erledigt). Wir humpelten ostwärts, und manchmal schlugen sie uns mit Knüppeln ins Gesicht oder feuerten eine Maschinengewehr-Garbe in unsere Reihen.
    Nun, sie waren die Sieger, also mussten sie die Herrenrasse sein. – So
versuchten wir es uns zu erklären. Leichen mit großen Augen waren wir, die versuchten, die ersten Lektionen des Lebens nach dem Tode zu lernen. Immer schwächer wurden wir, erst mit jedem Kilometer, dann mit jedem Werst, versanken in der Zeit, wurden entnazifiziert. – Nazi bin ich nie gewesen, so sagten wir alle.
    Hoch auf einem mit Kiefern bestandenen Hügel blickte die Schlossruine stumpf auf eine Landschaft aus roten Dächern und grünen Feldern herab. Und da erschossen die Russen wieder einen Nachzügler, und er träumte im Fallen noch immer von einem Reichskreuz, tausend Jahre alt, über und über mit Perlen und Edelsteinen besetzt. Inzwischen wussten wir, dass wir die Schnauze zu halten hatten.
    Der Wind kniff uns in die Gesichter. Unsere Häscher zogen uns mit diesen Zeilen der Achmatowa auf: Das Lächeln ist mir nun verflogen, / Im Frostwind ist es mir geronnen.
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    In Güterwaggons karrten sie uns nach Osten; auf Schienen mit einer Spurweite, so eng wie jene seltsamen mit Noten bepackten Abschnitte von Schostakowitschs 8. Sinfonie, die mit Takt 96 beginnen; den Instrumenten piatti und cassa zugedacht. Für die meisten von uns gehe es in die Bergwerke, sagten sie. Die Bergleute in unseren deutschen Märchen waren so reich, dass sie sich die Schuhsohlen mit Gold nageln konnten. Nun, wer weiß? Vielleicht würde das für uns genauso sein. Mit Eisenbahn und Lastwagen ging es weiter nach Osten. Dann mussten wir zwanzig Stunden lang ohne Pause marschieren und hatten nicht einmal einen Schluck schmutziges Wasser zu trinken. Wenn sie uns rasten ließen, manchmal nur eine Nacht, manchmal Wochen lang, blickten wir auf unsere verschränkten Hände herab und fragten uns laut, ob eine einzige Tellermine mehr im Hürtgenwald uns nicht hätte retten können.
    Dann kam die Parade in Moskau, diese Demütigung, die letzte Prüfung, bevor sie uns in lange, wurmartige Gefangenenschlangen aufteilten, deren Glieder sich in dieses oder jenes Loch im russischen Schlamm graben und zu Tode schuften mussten; wir marschierten über den Roten Platz, und die Menschen spuckten uns an; aber da hatte ich schon meinen Trick gefunden; ich tat so, als wäre ich noch immer einer der
Helden der Legion Condor, die in Madrid an Francos mit Hakenkreuzen behängter Tribüne vorbeizogen, mit ausgestrecktem rechten Arm: Sieg Heil!
    Im Gerichtssaal wurden unsere Wärter alle zwei Stunden ausgewechselt. Das Telefon kreischte wie ein Adler. Dann wurden wir in großen Schüben abgeurteilt. Aber einmal, im Übergangsgefängnis, brachte eine russische Frau uns einen Eimer

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