Europe Central
Volkes mit ihrem dunklen Adler mit den Messerklingenflügeln, dem einzigen Ding, das nicht weiß war; die Prachtstraße war vollkommen, und sie
war leer; jenseits der Halle des Volkes schwang sie sich nach links in die Wolken auf; weiße Parks und Wachhäuschen umgaben mich, und dann wurde alles so blendend hell, dass ich endlich begriff: Was den wirklichen strategischen Zweck dieser Operation anging, würde ich ewig im Dunkeln tappen.
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Ich musste also endlich aufgewacht sein: Ich wusste, dass ich nicht wusste.
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Kaum hatte ich mich ausgeruht, drang ich wieder unter dem Vorhang hindurch, in einem stillgelegten S-Bahn-Tunnel, der bis zum Mittelpunkt der Erde führte, wobei es sich, wie ich Ihnen heute versichern kann, um einen halbkugelförmigen Raum handelt, dessen Schachbrett-, Treppen- und Regenschirmmuster über die Jahrhunderte aus blauen und weißen Fliesen angelegt worden sind. Dort entdeckte ich Abhörgeräte, aufgereiht wie Bilder in einer Galerie, jeder Apparat mit seinen zwei Drähten an die Wirklichkeit angeschlossen, jeder beschriftet: … Eine endlose Reihe. Wo war? Aber ihn musste ich schließlich sehen ; ihm musste ich gegenübertreten! In einer Krypta in Berlin entdeckte ich die Nachbildung eines Kleinkindes, das in aller Unschuld einer Welt die Hand entgegenstreckt, die ihm verschlossen geblieben war, und ein steinerner Adler bewachte es. Ich war das Kind in dieser Gruft! Nichts hatte ich, nicht einmal einen Adler, denn er hasste mich.
Aber im herrlichen Mondlicht Ostberlins feierte ich fröhliche Urständ. Und wie ein Champagnerkorken flog ich hoch in die Luft und raste in die Schaltstelle Europa hinein! Es war recht böig; gern hätte ich meinen Steigemesser dabeigehabt, um die Unterschiede des atmosphärischen Drucks abzulesen. Aber mein Steigemesser gehörte zu den Dingen, die ich im Lauf der Jahre verloren hatte. Alle Hügel von Prag mit ihren Bäumen und Türmen lagen im Dunkel; Riga war unter Herbstlaub begraben; und in einem leeren verschneiten Park in Moskau entdeckte ich Schostakowitsch, der dort seine Kreise zog.
Mit eisenfarbenem Ruß verschmiert stellte ich mich ihm in den Weg; schluchzend bedrängte ich ihn: Herr Schostakowitsch, es tut mir leid …
Ungehalten unterbrach er mich: Eines muss ich Ihnen sagen, mein lieber deutscher Freund: Ich kann mir nichts Zynischeres denken, als, als, als erst schmutzige Dinge zu tun und dann hehre Worte von sich zu geben. Ich, wissen Sie, ich halte es für besser, schmutzige Worte zu sagen, aber keine schmutzigen Taten zu begehen …
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Aber nun konnte mich nichts mehr von ihm trennen. Er bedeutete mir alles. Er – und Elena natürlich. (Wo war Elena nur?)
O wie kalt es war! Tief unten im Schnee musste ich kriechen. Aber es machte sich bezahlt; ich erreichte mein Ziel. Die Menschen nehmen meine Entschuldigungen nur selten an. Aber Schostakowitsch gab am Ende nach. Er ist wirklich sehr nett.
Inzwischen wollte ich unbedingt einen Weg finden, ihn mit Elena zu versöhnen (die den Decknamen LINA trug); sollte ich ihn vorher oder nachher erschießen? Oder vielleicht überhaupt nicht? Sehen Sie, inzwischen himmelte ich den Mann an und stellte sein Glück über mein eigenes. Ach, wie oft ich bei ihm hereingeschaut habe, wenn er am Komponieren war! Wenn er die Augen schloss, sah ich, wie glücklich er war; mit meinen Zeiss-Linsen konnte ich ganz groß die Adern auf seinen Augenlidern sehen; sie pulsierten wohl im Rhythmus der 5. Sinfonie, die R. Taruskin als eine Abfolge von Einzelteilen, Gesten oder Ereignissen beschrieben hat, sofort erkennbar als Zeichen oder Symbole, deren Referenten von keinem universell anerkannten, stabilen Code bestimmt werden.
13 Nun lächelte er! Seine Finger spreizten sich auf dem Tisch, als schlage er auf dem Klavier einen komplizierten Akkord an oder melke vielleicht Elenas linke Brust – wie ich ihn liebte für sein Glück!
Bei einer dieser Mordvisiten, inzwischen zahlreicher als die Bombenangriffe der Alliierten auf Berlin, vertraute er mir an, es gebe eine gewisse andere Welt , in der er gelegentlich Wohnung nehme, eine Welt unter den Klaviertasten; ich wollte ihn nicht verletzen, indem ich ihm verriet, dass ich schon davon wusste; also machte ich stattdessen eine Rechnung auf: Jetzt mal im Ernst; erst einmal hätten wir da also Berlin selbst, in Ost und West geteilt, wie Europa; zweitens hätten wir die vier Sektoren von Deutschland; und inzwischen gibt es in der Sowjetzone
noch diese andere Zone, diesen
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