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verachtete PFITZNER . Und diese Tretminen auf der Wilhelmstraße, wo früher unser Außenministerium stand, diese Ruinen in der Nacht, deren Türmchen und Mauerlücken sich in die Lüfte schwangen wie schön aufgespannte Brücken, das war genug, um jeden aus der Fassung zu bringen.
Dort drüben stand das Schauspielhaus, fast unberührt. Warum hatten sie es noch nicht abgerissen? Einst habe ich dort Marlene Dietrich gesehen, 1927. Jetzt hielten sie dort anfeuernde Reden zur Erhöhung
der Arbeitsnormen. Egal. Ich konnte immer gut einschlafen; ihre Reden würden mich nicht stören. Außerdem hatte der bleiche Mann von der Organisation Gehlen mir versprochen, dass wir uns alles zurückholen würden.
Ich ging hin und versteckte mich hinter einer dieser beeindruckenden Säulen, die nicht einmal angesengt waren, und bestimmte meine Position. – Nein, ich hatte diese Slawen unterschätzt! Die Stimme der Elena Kruglikowa erhob sich in den Himmel.
15
Da wurde mir Folgendes klar: Ich bin Schostakowitschs Schatten.
Aber wofür stehen wir jeweils? Wir sind Gegensätze, das gewiss. Wenn seine Bedeutung also zu meiner Bedeutung hinzugerechnet wird, ist das Ergebnis dann null? In dem Fall, warum weitermachen?
Langsam fragte ich mich, ob ich mich selber umbringen musste, wenn ich ihn umbringen wollte.
Die kalte Zone der Nacht weitete sich vor mir; sie war noch breiter als die Prachtstraßen, die der Schlafwandler einst für Berlin geplant hatte (sie hätten die Champs-Élysées um zwanzig Meter übertroffen); ich raste durch das All, bis ich ihm Schlag Mitternacht begegnete; offenbar erwartete er mich, denn just als ich durchs Fenster hereinschwebte, schrie Elena Konstantinowskaja auf, und er hob matt eine Hand vor die Augen.
Da merkte ich, dass ich irgendwie vergessen hatte, meine Pistole zu laden; ich hatte in der letzten Zeit zu wenig Schlaf bekommen.
Schostakowitsch sagte: Wissen Sie, mein lieber Freund, Sie haben etwas, das ich nicht habe. Sie zeigen, wie soll ich sagen, Entschlusskraft. Was meine Musik angeht, da lasse ich auch nicht locker, gewiss nicht; da kann mir niemand etwas vorschreiben, aber ansonsten bin ich, na ja.
Ich sagte ihm, und das meinte ich ganz ehrlich: Im Grunde, Herr Schostakowitsch, bewundere ich Sie.
Zu freundlich; zu freundlich. Oh, wie Sie sich beschmutzt haben! Sie verdienen den, nun, nun, warum soll ich Sie erschrecken? Ich will gerne zugeben, dass etwas in mir sterben muss. Wie können wir beide diese Tortur beenden? Gift könnte vielleicht …
Genau das habe ich GREINER auch vorgeschlagen, Herr Schostakowitsch, aber er …
(Wo war Elena? Sie hatte sich in Luft aufgelöst. Was, wenn sie nie hier gewesen war? Ich wurde plötzlich sehr müde.)
Hassen Sie mich?, wollte er wissen.
Natürlich nicht, Herr Schostakowitsch! Ich habe Ihnen eben gesagt, wie sehr ich Sie bewundere.
Aber ich hasse Sie. Ich halte Sie für einen schrecklichen, bösartigen Menschen. Die Alpträume, die Sie meinen Freunden bereitet haben, besonders, wie soll ich sagen, Elena …
Aber das hier ist harmlos; das ist nicht real!
Was können Sie sich von meinem Tod erhoffen? Geld? Den Adenauerpreis? Es muss Geld sein. Sie lieben das Geld da drüben.
Entschuldigen Sie, Herr Schostakowitsch, aber ich stehe auf einer Liste.
Oh, sagte er. So ist das also. Und um sich zu retten, sind Sie bereit, mich, mich …
Da bat ich ihn um Vergebung. Mir wurde klar, dass er recht hatte. Mit einem Mal hatte er mich umgedreht, und ich stand gegen die Organisation Gehlen.
Ich werde Ihnen nicht vergeben, sagte er. Ich empfinde kein Mitleid, o nein! Sie sind nämlich sehr garstig gewesen, wissen Sie? Ich will Ihnen etwas sagen: Wie alle Mörder sind auch Sie, wie soll ich das ausdrücken, Optimist.
In Schande und Verzweiflung, einem Zustand, den ich nun langsam gewohnt war (ich werde nie vergessen, wie Elena Konstantinowskaja mich ansah, bevor sie sich in Luft auflöste), wandte ich mich von ihm ab und wanderte zwischen mit stählernen Lanzen gespickten Trümmerbergen westwärts. Er hasste mich also! Ich verlor mich in einem Gewirr von Ziegeln, Sockelplatten, Eisenrosetten, Stahlbändern, Steingedärm, alles unter halb eingestürzte Gewölbe gedrängt. Er hasste mich! Ich fühlte mich der Sonne so fern wie Dresden im Winter. Und ich grub mich wieder unter dem Eisernen Vorhang hindurch, hinein in das grelle Licht eines Westberliner Nachmittages, und die lange weiße Prachtstraße erstreckte sich vom Triumphbogen bis zur Halle des
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