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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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Ort, an dem alles rein und schön ist (dafür liebte ich ihn; das ist wirklich eine extrem deutsche Vorstellung); aber wer konnte dorthin gelangen? Nur Schostakowitsch selbst? Oder auch Elena? Sie hatte ihn verlassen, weil sie nicht dorthin wollte; aber was, wenn sie ihn in Wirklichkeit verlassen hatte, weil er glaubte, dass sie diese Welt betreten könne, und sie wusste, dass es nicht stimmte? Immer wenn ich dem Opus 40 lausche, glaube ich, dass sie es gekonnt hätte, aber wenn das stimmt, woran war das Unternehmen dann gescheitert? Mir erzählte er, zum Ende hin habe sie es wirklich versucht; sie rahmte sich das erste Blatt der Partitur des Opus 40 ein, eine Komposition, die wahrhaft ganz sie war, so wie er sie kannte, und hängte sie in ihrer kleinen Wohnung am Leningrader Kirowski-Prospekt auf, damit er sah, dass sie, dass sie, Sie wissen schon. (Diese letzten sieben Worte stammen von Schostakowitsch.) Nun gut, doch konnte er sie jemals dorthin mitnehmen? Aber bitte, lieber Gott, warum denn nicht?
    Außerdem erzählte er mir von einem Alptraum, der ihn jahrelang gequält hatte: Er will mit Elena schlafen, aber immer, wenn er sie in die Arme nimmt, läutet das Telefon.
    Ich versuchte, ihm das Kennwort abzubetteln. Ich wollte Zutritt zu jener Welt östlich des Ostens, der Welt unter den Klaviertasten. Wenn ich ihn hätte, wäre ich frei; ich müsste mich nicht mehr darum sorgen, auf welcher Liste der Organisation Gehlen ich stand.
    Er sagte: Aber das wäre traurig, Sie sind doch gar nicht, wie soll ich sagen, also, Sie heißen nicht Ljalka! Worauf basiert unsere Beziehung? Nun ja, offen gesagt, Sie waren wirklich nicht sehr, Sie wissen schon. Außerdem, das ist nicht Ihre Welt.
    Wo ist dann meine Welt, Herr Schostakowitsch?
    Bauen Sie sich eine, mein lieber Freund …
    Ich weiß nicht wie.
    So viel Energie, so viel, wie soll ich sagen, Aggression, so viel Talent! Ganz bestimmt können Sie es sich irgendwo schön machen. Sie haben hart gearbeitet …
    Aber das ist der Todeskuss, Herr Schostakowitsch.
    Tut mir leid; das ist alles wirklich …
    Ich füllte ihm das Glas mit westdeutschem Schnaps, und er rief: Oh, danke, danke!
    Dann flehte ich ihn weiter an, also sagte er: Sie dürfen hinein, aber nicht wieder heraus.
    Was soll das heißen, Herr Schostakowitsch?
    Wo waren Sie denn in diesem Krieg? Wie können Sie das nicht verstehen? Egal. Hören Sie sich diesen Akkord an!
    Und er fuhr mit den Fingern in die Luft. Ich hörte einen glockengleichen Laut.
    O Gott! Das war der schönste Laut, den ich je hörte oder hören werde – und der traurigste.
    Da hätte ich alles für ihn getan; sogar gestottert wie er hätte ich.
    Aber es blieb, was Goethe die ewige Elena-Frage genannt hätte, denn, nun ja, wie soll ich sagen …
    Die ewige Note! Elena lieben oder sterben! Elena lieben und sterben! Eines der beiden muss es sein. Oh, könnte ich doch nur, na ja, Sie wissen schon.
    18
    Und schon hatte ich mich in Elena Konstantinowskaja verguckt. Zum Teufel mit Schostakowitsch! Ich wollte sie für mich haben. Und sagen Sie mir nicht, ich wüsste nicht, was eine arische Schönheit ist; ich habe Lisca Malbran in einem Bauernkleid posieren sehen. Einen anderen Film mit Lisca Malbran habe ich nie gesehen – na und? Schließlich liebte ich Elena.
    Auf dem Amt waren sie ganz und gar nicht zufrieden. Sie verloren fast das Vertrauen in mich. Ich wage kaum, Ihnen wiederzugeben, was HAVEMANN sagte …
    Im Vorzimmer, wo an jedem Schreibtisch aus Eichenholz zwei Männer über Eck saßen, der eine am Telefon, der andere an der Schreibmaschine, weigerten sie sich, mir einen Stuhl anzubieten; bis an die Decke erhoben sich die Aktenschränke aus Eichenholz, und ich hätte gern gewusst, in welcher Schublade ich lag; HAVEMANN wusste es vermutlich, aber HAVEMANN überließ mich mir selbst, nachdem er seine Rüge an den Mann gebracht hatte, und danach würdigte man mich keines Blickes mehr. Ich konnte mich selbst kaum noch aushalten – oh, wie gerne ich im Erdboden versunken wäre!
    Schließlich ertönte der Summer. GRAENER und NEY führten mich
durch den Korridor mit den weißen Stahlschränken und bogen am Flur mit den schwarzen Stahlschränken rechts ab; dort stand ein Agent, pfiff sich eins und tat, als prüfe er einen bestimmten Satz Fingerabdrücke, wobei er mich die ganze Zeit über das Dokument hinweg anstarrte, und dann ließen GRAENER und NEY mich an der Schwelle zum Allerheiligsten stehen.
    Der bleiche Mann streichelte die Gabel

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