Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Europe Central

Europe Central

Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
Vom Netzwerk:
seines schwarzen Telefons, die sich so launenhaft nach unten krümmte wie die Brille seiner Sekretärin – für unsere kleine Plauderei würde er sie hinausbitten –, und wollte wissen, ob ich jene erste Tablette wirklich geschluckt hatte. Natürlich, insistierte ich; ich blieb, wie soll ich sagen, unnachgiebig.
    Sie schneiden Fratzen, tadelte er mich. Sie sehen aus, als würden Sie von wilden Pferden in Stücke gerissen!
    Die Zeiten sind danach, sagte ich.
    Setzen Sie sich, sagte er.
    Dem kam ich nach.
    Er räusperte sich und setzte an: Das Geheimnis, warum Siegfried der Brünhilde Ring und Gürtel stahl, was ihn den Anwürfen aussetzte, sie entjungfert zu haben, und ihm so den Hass ihrer Sippe einbrachte, die Frage, warum er zu Kriemhild von seiner verwundbaren Stelle sprach, worauf sie Hagen diese so leichtsinnig verraten konnte, all dies weist auf einen Hang zur Selbstzerstörung hin. Und wo nun hat dieser seinen Ursprung?
    Ich erwiderte (voller Stolz auf meine Antwort): Zunächst in Eitelkeit. Dann in der Unfähigkeit, ein Geheimnis für sich zu behalten. Steht das nicht alles in der Akte? Es gibt allen Grund zu der Annahme, dass Kriemhild eine »Julia«-Agentin war. Was Siegfried angeht, der weigerte sich, farblos zu sein und sich zu schützen; er war einfach ganz er selbst und trug die Konsequenzen.
    Das stimmt so weit, mein Freund, aber sehen Sie denn nicht, dass die Schönheit Ursprung allen Übels ist? Erinnern Sie sich an Hoffmanns Novelle vom »Fräulein von Scuderi«? Der teuflische Goldschmied fertigt Ringe, Arm- und Halsbänder von solcher Vollendung, dass er nicht mehr von ihnen lassen kann. Was bleibt ihm, als sich des Nachts hinauszuschleichen, seine Kunden umzubringen und sich seine Schätze zurückzuholen? Und ist Ihre Elena nicht von gleicher Art?
    Nein. Bei allem Respekt, das ist sie nicht.
    Sie raubt Ihnen den Verstand.
    Auf Ihren Befehl!
    Wessen Haar haben Sie an den Ring für den geheimen Einsatz gebunden, den wir an Sie ausgegeben haben?
    Das weiß ich nicht.
    Sie haben den Ring nicht verloren. Wir haben ihn uns genommen, um an das Haar zu kommen.
    Haben Sie mir das Haar nicht überhaupt erst untergeschoben?
    Er gluckste. – Das vielleicht auch. Und, was beweist das schon?
    Keine Ahnung.
    Feigling! Schlucken Sie diese Tablette! Nein, warten Sie. Ihre Antworten sind wirklich aufschlussreich. Was war da wirklich zwischen Siegfried und Brünhilde, vorher  – ich meine vor Beginn der Geschichte?
    Ich bin auch der Meinung, dass sie ihn irgendwie gekannt haben muss, weil …
    Sie sind auch der Meinung? Gut. Deshalb müssen Sie mir erklären, woher das einzelne schwarze Haar kommt, das Sie auf dem Kissen gefunden haben.
    Von einem Sukkubus?, theoretisierte ich.
    Kommen Sie mir nicht komisch. Ich befehle Ihnen, über Ihre vormalige, unbewusste Beziehung mit Elena Konstantinowskaja nachzudenken, die Ihrer eigenen Deutung der Ereignismuster nach zweifelsohne eine »Julia«-Agentin ist. Erstatten Sie mir morgen schriftlich Bericht. Ich will alle Namen.
    Zu Befehl, sagte ich. Aber Elena war noch immer die Frau, die ich liebte. Ich wusste, dass ich sie liebte, also wusste ich, wer ich war.
    19
    Und Schostakowitsch? Mit dieser Frage meine ich nicht: Wer ist er? Die Antwort darauf finden wir im Opus 110. Ich meine: Was mache ich mit ihm? Eine der »Julia«-Agentinnen der Organisation Gehlen, NEY vielleicht oder gar eine erstklassige Schnulzensängerin aus dem Wintergarten könnte ihn von ihr fortlocken. Das mit den silbernen Kugeln hatte ich jedenfalls aufgegeben. Oh, aber selbst das, wie könnte ich es ihm antun? Nun, Elena zuliebe könnte ich es. (Bestimmt hatte sie ihre eigene geheime Welt; dort würde ich mich verstecken können.)
    Ich wollte sie unter dem Eisernen Vorhang hindurchschleusen und ihr im KaDeWe kaufen, was ihr Herz begehrte. Was hätte einen Menschen glücklicher machen können? Wenn sie nicht mitkommen wollte, würde ich ihr eine stählerne Schatulle mit Schmuggelware zu Füßen legen! Der nächste Traum: Unser Kind würde aussehen wie das kleine ostdeutsche Mädchen, das in Roman Karmens Film »Genosse Berlin« mit Kreide eine Sonne auf den Gehsteig malt und dann in die Kamera lächelt, wobei ihr die Sonne auf die zusammengepressten Knie scheint. Sehen Sie, ich dachte schon wie einer von ihnen!
    In jener Nacht bin ich in einem fort wie in Trance durch Ostberlin geschwebt und habe in allen Fenstern Elena gesehen.
    Selbst als ich in der Morgendämmerung nach Westberlin

Weitere Kostenlose Bücher