Europe Central
lieferte der sogenannte »Ungarische Volksaufstand« uns einen Vorwand, wieder Pflöcke einzuschlagen. Am 17.10.56 erklärte die Rote Guillotine: Die Abschaffung der Todesstrafe können wir uns nicht leisten. In unserer Deutschen Demokratischen Republik gibt es keine Fehlurteile.
Trotzdem beschlossen wir 1957, in Zukunft Mord mit fünfundzwanzig Jahren Gefängnis zu bestrafen, nicht mit dem Tod. Ich sah sie neben dem ungarischen Justizminister Ferenc Nazval sitzen, beide waren sie isoliert, und noch am selben Tag unterzeichnete sie in einer bizarren Zeremonie von absurder Schlichtheit dieses grausige Gesetzeswerk, Gestalten in dunklen Anzügen hinter sich aufgereiht und an der Wand das riesige Porträt eines grauhaarigen Mannes: der Genosse Ulbricht. Zum Glück konnte man für Verrat, Agententätigkeit, und verwandte Verbrechen noch immer die verdiente Strafe erhalten.
Ich höre, dass sie die Beerdigung des ehemaligen Feldmarschalls Paulus besucht hat, die aus politischen Gründen kleingehalten wurde. Danach saß sie in ihrem Hotelzimmer am Schreibtisch, öffnete ihre Aktentasche, holte die Stasiakte heraus, zog die zweite Fotografie hervor, die Paulus in einem hüfttiefen Schützengraben in Stalingrad zeigte, eine Hand um das Gelenk der anderen gelegt, so als wollte er den Feind fortstoßen, während die Männer in Uniform rundherum ergeben zusahen; lachend riss sie das Foto in kleine Stücke.
Sie unterzeichnete wieder ein Todesurteil, und dann sah ich sie in ernstem Gespräch mit Erich Mückenberger, wobei das fehlerhafte Gebiss ihrem Gesicht einen billig monströsen Ausdruck verpasste; das Urteil wurde nicht vollstreckt. Inzwischen fanden sich in ihrer Stasiakte Beschwerden über ihre anmaßenden, gebieterischen, »unkollegialen«
Wutanfälle. Ungefähr zur selben Zeit überprüften wir erneut ihre Vergangenheit und entdeckten, dass sie die Jahre 1937-39, von denen sie in ihrem Lebenslauf angibt, als Angestellte im Einzelhandel gearbeitet zu haben, in Wahrheit in einer jüdischen Konditorei zubrachte. Nicht, dass wir in unserem Deutschland etwas gegen Juden hätten. (Für den Westen kann ich mich nicht verbürgen.) Trotzdem, man kann nicht vorsichtig genug sein, bei dem Abenteurertum, das die Zionisten heute an den Tag legen. Möglicherweise ging ein Bericht an den Genossen Mielke. Andererseits glaube ich eher nicht, dass er Konsequenzen hatte. Der Gedenktext, den sie ein paar Jahre später für Georg Benjamin verfasste, wurde veröffentlicht und gewissenhaft gelobt.
Als wir am 5. Dezember zum Tag der sowjetischen Verfassung Schnaps und Zigaretten herumgehen ließen, versuchte sie, sich beim Genossen Honecker einzuschmeicheln, der offensichtlich früher oder später nach ganz oben aufsteigen würde, aber er schnitt sie.
Ich sah sie 1958 im Pelzmantel neben dem Sekretär des SED -Zentralkomitees Grüneberg stehen, als wir die Arbeitslosigkeit schon restlos beseitigt hatten. Damals forderten die friedliebenden Völker der Sowjetunion von den anglo-amerikanischen Imperialisten die Entmilitarisierung Berlins. Natürlich wiesen die Imperialisten diese gerechtfertigte Forderung zurück. Egal. Wenn die Zeit gekommen ist, werden sie schon sehen.
Bei der nächsten Zeremonie mit Sowjetsoldaten lächelte sie, sah lieb aus mit den grauen, zu einem Kranz geflochtenen Zöpfen auf dem Kopf; und ihr gestreifter Schal zum Pelzmantel wirkte recht flott. Im Alter nahm ihr Gesicht einen seltsam freundlichen, nachdenklichen Ausdruck an, rund und weich, wie sie da mit anderen Würdenträgern an der weiß gedeckten Tafel saß; sie hätte ein jüdischer Flüchtling sein können, was sie durch Heirat auch war, oder eine spanische Zigeunerfrau oder, mit diesem schweren runden Gesicht, gar Käthe Kollwitz selbst; wie seltsam, dass sie Käthe Kollwitz hätte sein können! Wie die Programmatische Erklärung des Vorsitzenden des Staatsrates es 1960 so vollendet ausgedrückt hat: Unser Recht ist die Verwirklichung der menschlichen Freiheit .
54
Im gleichen Jahr, als Befugnisse und Personalbestand der Stasi ausgeweitet wurden, um feindlich-negative Kräfte besser ausspähen zu können, als wir den Verräter Manfred Smolka hinrichteten; als Roman
Karmen »Unser Freund Indonesien« drehte und Schostakowitsch das Opus 110 komponierte, gaben wir unserer Kampagne zur Zwangskollektivierung der Landwirtschaft neuen Schwung – eine Aufgabe, der die Dürre von 1959 zusätzliche Dringlichkeit verliehen hatte. Wer wollte die Strafverfolgung
Weitere Kostenlose Bücher