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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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übernehmen, wenn jemand die Erntequoten nicht erfüllen konnte? Natürlich unsere Rote Guillotine! (Genosse Bley: Ausgehend von den Lehren Lenins sah sie in der sozialistischen Gesetzlichkeit eine unverzichtbare Leitungsmethode der Arbeiter-und-Bauern-Macht .)
55 Die Rote Guillotine saß unterdessen gebrechlich und zerquält, die Hand um die Armlehne geklammert, die weißen Beine übereinandergeschlagen, in der ersten Reihe einer Festveranstaltung zum hundertfünfzigjährigen Bestehen der Humboldt-Universität.
    Natürlich führten unsere verschärften Anstrengungen bei der Sozialisierung der Landwirtschaft dazu, dass weitere Parasiten über die Grenzen flohen – zweitausend am Tag! Die Rote Guillotine schickte alle, die wir fassten, ins Gefängnis, und kreischte im Gerichtssaal: Sich erst eine kostenlose Ausbildung holen und dann weglaufen, ist das anständig? Aber trotzdem gelang immer mehr Menschen die Flucht. Deshalb war der Genosse Ulbricht gezwungen, die Grenze zur BRD zu befestigen – oder, wie man passender sagt, den antifaschistischen Schutzwall zu errichten. Das funktionierte hervorragend. Es machte den tiefen Graben zwischen unserem neuen Deutschland und dem, was man treffend nazideutschen Faschismus genannt hat, augenscheinlich. Das Telefon kreischte vor Freude. Von der Adenauerschen »Politik der Stärke« war ein Scherbenhaufen übriggeblieben , brüstete sich der Genosse Honecker.
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    Sie entwarf unser Familiengesetzbuch von 1966, das den Besitz der Frauen nach einer Scheidung schützte und von den Eltern verlangte, ihre Kinder zur sozialistischen Weltanschauung zu erziehen. Welche anderen Länder können sich einer so fortschrittlichen Gesetzgebung rühmen? Bei der Unterzeichnung legte sie den Kopf schief, so dass man ihren Scheitel sah; ein Mann vom Zentralkomitee stand über sie und ein anderer über den Genossen Ulbricht gebeugt. Sie verliehen ihr die Verdienstmedaille der Nationalen Volksarmee in Gold. Aber ihre Ideale hatte man längst aufgegeben.
    Vor den Volkskammerwahlen von 1967 war unmittelbar vor ihrer einwöchigen Reise nach Bulgarien alles vorbereitet worden, um sie wie üblich als Kandidatin aufzustellen; aber drei Tage nach ihrer Rückkehr, am 30.5.67, bestellte sie ihren Fahrer und ließ sich in ihrer Limousine mit den winzigen Fenstern nach Potsdam fahren, um sich um die Formalitäten zu kümmern – und musste erfahren, dass sie doch nicht nominiert werden würde; ihre Amtszeit als Justizministerin war abgelaufen. Ein Bericht von Hauptmann Richter von der Stasi beschreibt ihre Reaktion als zwischen Erstaunen und Wut . Der große runde Kopf sank ihr tief zwischen die dunkel verhüllten Schultern. Und so musste sie Dr. Kurt Wünsche Platz machen. Schließlich war sie jetzt fünfundsechzig.
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    Sie nahm ein paar Erinnerungsstücke mit, darunter auch eine Aktenmappe, die inzwischen nur noch eine unscharfe Fotografie von Paulus im Profil enthielt, wie er in Gefangenschaft ging, erhobenen Hauptes. Nun ging sie in die ihre, in ihrer zweigeschossigen Villa in der neuen, von einer Betonmauer abgeschirmten Wohnanlage zwischen Basdorf und Wandlitz mit Tennis- und Schießplatz;
58 glaubt man dem Genossen Ulbricht, war das Essen dort viel besser als im »reservierten« Restaurant des Hotel Lux in Moskau. Wann immer sie wollte, konnte sie einen Spaziergang zum Haus des Genossen Matern machen oder sogar zu dem des Genossen Ulbricht, das mit chinesischen Wandbehängen geschmückt war. Aber sie mochte beide nicht. Manchmal, wenn sie sich massieren ließ, begegnete sie dem Genossen Ulbricht bei der Gymnastik und war um Höflichkeit bemüht, aber wie hätte sie vergessen können, dass er ihre Ablösung nicht verhindert hatte.
    Im Jahr 1968 standen wir gegen die tschechischen Provokateure fest an der Seite der Sowjetunion. Die Rote Guillotine saß zu Hause am Radio und schrie: Tod, Tod! Im Jahr darauf verriet die Sowjetunion uns und normalisierte ihre Beziehungen zur BRD ! (Sehen Sie nur! Da lächelt Roman Karmen freundlich kleine Kinder mit kurzgeschorenen Haaren an, bei den Dreharbeiten zu »Genosse Berlin«. Bald wird er wiederkommen, für eine Retrospektive zur Feier seines fünfundsechzigsten Geburtstages. Aber das kann die Rote Guillotine alles nicht aufmuntern.)
    Im September nimmt sie an einer internationalen Juristenkonferenz an der Deutschen Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft »Wal
ter Ulbricht« teil, aber nur noch als Professorin für die Geschichte der Rechtspflege; das,

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