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deutscher Faschist hatte ihm das Bajonett in den Unterarm gerammt, aber er hatte das Schwein erwischt; er hatte ihm die weiche weiße Kehle durchgeschnitten! Der Rotarmist war betrunken, hatte sich vielleicht ohne Erlaubnis von der Truppe entfernt, wusste nicht wohin und packte sich Schostakowitsch buchstäblich auf der Straße, wobei sich die Ängste des Letzteren bis zum fortissimo steigerten, weil er sich in siebzehn Minuten auf seinem Posten als Feuerwache auf dem Konservatoriumsdach zu melden hatte; aber der Rotarmist, der sehr groß war und dessen saurer Atem und rot unterlaufene Augen Schostakowitsch auf ewig verfolgen sollten, verstand das einfach nicht. Zuerst erklärte er ihm, wie seiner Ansicht nach jedes einzelne Mitglied seiner Familie umgekommen sein musste; er war natürlich nicht dabei gewesen, sonst wäre er auch tot; er war an der Front gewesen, nur ein paar Straßen weit von hier; und seine lebhafte Fantasie (Mama, verstehst du, die sitzt beim Nähen gerne direkt am Fenster, weil sie nicht mehr so gut sieht; sie ist weitsichtig, also hat sie es bestimmt kommen sehen; das macht mich fertig) war sein Mittel, den Schock zu verarbeiten; danach erzählte er die Geschichte immer wieder von vorn – und Schostakowitsch empfand ihm gegenüber nichts als ein von großem Schmerz erfülltes Mitleid; vielleicht hatte er sich im ganzen Leben nie einem anderen Menschen so nah gefühlt, außer wenn Elena und er gerade, Sie wissen schon – der Rotarmist krempelte sich den Ärmel auf, um Schostakowitsch seine Wunde, die grässliche Wunde ins Gesicht zu schieben,
die zu verbinden er keiner Krankenschwester erlaubt hatte und die entsprechend entzündet war, wobei er liebevoll nacherzählte, wie er sie erhalten hatte, wie geehrt er sich fühlte, ihre halb heilende, halb schwärende Narbe auf ewig zu tragen; und er erzählte, dass er sie manchmal küsse und dabei so tue, als wären es die Lippen seiner toten Frau; manchmal tat er auch so, als wäre sie ein ganz junges Mädchen namens Natalka, ein Mädchen mit langen schwarzen Haaren, das er sogar noch mehr geliebt habe als seine Frau, aber deren Vater, leider, ein Volksfeind gewesen sei (und Schostakowitsch dachte: O mein Gott, oje, was redest du da?); manchmal tue er so, als sei unser Mutterland diese junge Natalka, und wenn er die Wunde küsse, dann küsse er es; dann wurde er bösartig und fing an, Schostakowitsch, der offensichtlich ein verstunkener Intellektueller war, zu fragen, was er denn bitteschön für unser Mutterland getan habe; da verhalf Glikmann ihm zur Flucht. Jede einzelne Note des Opus 110 sollte so eine Wunde sein, eine Wunde, die der Komponist hegte und pflegte, um sie trotzig allen in die Ohren zu jagen …
Aber während er dieses Gefühl wahrnahm und es geschickt in seine Metallkomponenten zerlegte, um es in kunstvolle Streifen zu schneiden und an strategisch günstigen Punkten in die Akkordwände des Opus 110 einzuschweißen, konnte er es nicht nachempfinden. Es blieb unwirklich.
Gute Kommunisten schrieben ihm Briefe und erklärten, er gehöre ausgelöscht. Und hatten sie nicht recht? War er denn kein Formalist, kein Schoßhündchen der Amerikaner und Wlassowit? Sie kamen auf seine schwarze Brille mit den dicken Gläsern zu sprechen; sie sortierten ihn als dekadenten bourgeoisen Ästheten ein, als Apologeten des Zionismus. – Wie eine traurige alte Krähe zwinkerte er Nina zu, als er das Letztere hörte, und dann flüsterte er ihr ins Ohr: Darauf bin ich, sozusagen, stolz. Weil, weißt du, was der Genosse Hitler gesagt hat? Das Gewissen ist eine jüdische Erfindung.
19 – Und Nina rückte mit einem Ruck von ihm ab, als hätte sie sich verbrannt. Sein selbstmörderischer Zynismus war ihr ekelhaft.
Der Genosse Chrennikow hatte ihn schon lange als »dem Sowjetvolk fremd« eingestuft.
20 Sie zerstörten seine Aufnahmen und Partituren, wo immer sie sie fanden.
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Im gleichen Jahr, als der Genosse Stalin Berlin gerade gegen die Kapitalisten abzuschotten begann [ 40 ] , vollendete Schostakowitsch seinen Zyklus Aus der jüdischen Volkspoesie, den man natürlich, des dritten Wortes im Titel wegen, zu Stalins Lebzeiten nicht würde aufführen können, und danach vielleicht auch nicht. Als seine Freunde sich entschlossen zeigten, einen Veranstaltungsort zu suchen, sagte er: Wozu die Mühe? So ist unser Leben …
Seine Hoffnungen standen unter Beschuss und ragten wie halb skelettierte Gebäude aus dem Rauch brennender Panzer auf; tiefer und
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