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wie du und haben noch keine Selbstkritik geübt –, bedrohen Abgesandte des Sowjetvolkes spontan Nina und werfen dir die Fensterscheiben ein.
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Als sie den faschistischen Kollaborateur A. A. Wlassow aufhängten, war es August. So leuchten wir den vor uns liegenden Weg mit einem Suchscheinwerfer aus. Das Knarzen des Seils, lässt sich das in das Opus 110 einarbeiten? Im September, als die Kader des Genossen Stalin Hatz auf zionistische Verschwörer machten, verlor Schostakowitsch all seine Lehraufträge an den Konservatorien von Leningrad und Moskau. – Gebt ihm acht Gramm, rief einer. (So viel wog eine Kugel.) – Danke, danke, erwiderte er und erhob sich von seinem Platz. Ich bin nie hier gewesen, wie könnte ich mich da erniedrigt fühlen? Sie glauben, sie haben einen sogenannten »Sieg« errungen, aber ich bin gar nicht hier; ich bin unter den Klaviertasten, in meiner, meiner … Dort will ich ausruhen. Bewegen meine Lippen sich noch? Ich fühle mich wirklich sehr … Ach, hätte sie doch nur … Dann würden sie sechzehn Gramm brauchen! – Darauf verließ er den Saal, mit ständigem Blinzeln
hinter der Brille. Nennen wir es Kadenz abwärts; Verzweiflung war es nicht. Niemand wagte, ihm ein Wort des Trostes zu sagen, und seine Studenten, die am gleichen Tag noch respektvoll hinter ihm gestanden hatten, als er am Flügel ein weiteres Thema für sie anschlug, schon gar nicht; nun, konnte er ihnen das zum Vorwurf machen? Ich bin nur ein, ein, wassagtmanda. Natürlich wollten sie fortschrittlich sein; sie wollten nicht ausgelöscht werden. Es war sehr …
Der arme Maxim, inzwischen zehn Jahre alt, musste seinem Vater plötzlich bei einer Prüfung im Musikunterricht abschwören. – Schostakowitsch lächelte, als er davon hörte, und strich dem Jungen übers Haar.
Es tut mir leid, Papa. Nicht böse sein. Sie haben mich dazu gezwungen, dabei liebe ich dich …
Natürlich, natürlich, lachte Schostakowitsch. Ich weiß, dass du zu mir stehst. Schließlich, mein lieber Junge, können wir nicht anders, wir müssen uns in den Dienst unserer eigenen, äh, Klasse stellen. Und warum sind deine Socken so schmutzig? Komm doch mal her. Ach, ojemine …
Was hat er in diesem Augenblick empfunden? Da war etwas in Maxims Blick, das schrie und schrie; das war es, was ihm Schmerz bereitete, beziehungsweise, um genau zu sein, es war dieser Laut (was war das für ein Laut?); tief in seiner Seele wusste er, wie das klingen sollte, und es wurde eine weitere Note im Opus 110! Nun, nun, und Lebedinski berichtet mir, dass auch die Achmatowa ihren Augenblick des Ruhms erlebt habe, in der Leningradskaja Prawda . »Dichtkunst, die dem Volk fremd ist und schadet«.
18 Das ist wirklich sehr … Man denke nur, sie hat meine 7. Sinfonie auf dem Schoß aus Leningrad herausgebracht. Die arme, arme Frau! Ich halte besser Abstand. Irgendwann werde ich einmal eines ihrer Gedichte vertonen müssen, nur um, Sie wissen schon. Glikmann versichert mir, im »Poem ohne Held« seien die Worte meine Siebente ein Verweis auf, auf … Was ist das für ein Laut? Oh, wie weh er tut, wie weh, wie weh ! – Wie mag er für Schostakowitsch geklungen haben, und klang er schon damals, als er ihm zum ersten Mal im Schädel explodierte wie eine Gehirnblutung, so wie zwölf Jahre später, als er sich in jenem Kurort nördlich von Dresden einschloss und die Noten eben jenes Akkords aufs Papier warf? Woher soll ich das wissen? Nun, in den Kriegsjahren war die angeborene Geheimnistuerei hinter seiner
Schüchternheit, belagert vom Gemeinschaftssinn unserer Revolution und seinen eigenen Idealen, tatsächlich kurzzeitig aufgebrochen worden, so groß war die Not. Anstatt nur seiner eigenen Musik zu lauschen, hatte er gelegentlich Menschen zuhören müssen, deren diverse Sorgen und Sehnsüchte ihn schließlich doch betroffen machten. Besonders vor den Soldaten gab es kein Entkommen, da fast jeder Mann Soldat war. In Leningrad hatte es einen gewissen Rotarmisten gegeben, der ihm nur ein einziges Mal begegnet war, und das nur ganz kurz, und den er dennoch nicht vergessen konnte und dessen ganze Familie in jenem ersten August in einem einzigen Augenblick umgekommen war, dank einer Granate, die ihr auf Befehl von Feldmarschall Ritter Wilhelm von Leeb in die Wohnung geschickt worden war; dieser Soldat war kurz darauf verwundet worden und vergötterte seine Verwundung wie sein eigenes Kind; er war stolz darauf; sie gehörte ihm, und sie war alles, was er hatte. Ein
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